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Größte Revolution seit Erfindung des Autos

Wirtschaft / Lesedauer: 7 min

Anteil der Elektronik wird zunehmen – Kfz-Handwerker sind keine Realitätsverweigerer
Veröffentlicht:23.06.2017, 19:00

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Die Automobilbranche stehe vor der „größten Revolution seit der Erfindung des Autos“. Das sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag auf dem Tag der Deutschen Industrie in Berlin. Und keiner der rund 1500 anwesenden Vertreter aus Wirtschaft und Politik widersprach ihr. Dass diese Revolution auch nicht vor dem Handwerk haltmacht, dessen ist sich auch Paul Doliwa aus Ludwigsburg bewusst, obwohl er gar kein Kfz-Handwerker ist.

Paul Doliwa ist Fachinformatiker. Schon in der Schule habe ihn seine Lehrerin immer um Rat gefragt, wenn es Probleme mit der Technik gab. „Das hat mich schon immer interessiert“, sagt der 26-Jährige. Doch inzwischen arbeitet er nicht mehr in einem reinen IT-Unternehmen. Seine Fähigkeiten werden in einer Autowerkstatt in Waiblingen im Rems-Murr-Kreis gebraucht. „In den Autos wird es in Zukunft immer mehr Elektronik geben“, sagt Doliwa. „Für die Fehlerdiagnose braucht man funktionierende Laptops. Da ist es aber oft nicht damit getan, diese nur ans Auto anzuschließen.“

Dass ein Fachinformatiker in einer Kfz-Werkstatt mitarbeitet, dieses Phänomen kennt Daniel Rösch vom Verband des Kraftfahrzeuggewerbes Baden-Württemberg bisher noch nicht. Ihm ist aber sehr wohl klar, dass die Autos der Zukunft komplexer werden: „Der Computer wird mehr Funktionen übernehmen“, sagt Rösch. „Das Onboard-System wird wichtiger als der Schraubenschlüssel.“ Angst und bange wird ihm vor dieser Entwicklung aber nicht. Die Kfz-Handwerksbetriebe hätten sich bereits in der Vergangenheit immer gut auf Veränderungen eingestellt und sich angepasst. 2003 entstand zum Beispiel aus den Berufen Kfz-Mechaniker und Kfz-Elektroniker die Mischform Kfz-Mechatroniker .

Fehler oft in der Elektronik

Vorbei scheinen aber die Zeiten, in denen der Mechaniker die Motorhaube aufmacht und mit nur drei Handgriffen das Auto wieder zum Laufen bringt. Es braucht Laptops, die richtige Software und das Know-how, um das Problem zu erkennen und später auch zu lösen. Denn oft liegt der Fehler in der versteckten Elektronik, nicht in der Mechanik. Besonders häufig betroffen sind die vielen Steuergeräte, die von Marke zu Marke unterschiedlich aufgebaut sind. Weil viele Werkstätten aber nicht die passende Software haben, um das Steuergerät zu überprüfen, werde es oft einfach nur durch ein neues ersetzt, sagt Fachinformatiker Doliwa: „Doch das kostet viel Geld, ist unnötig teuer.“

In der Werkstatt in Waiblingen gibt es deshalb für jede Marke mindestens einen Laptop mit der entsprechenden Steuergeräte-Software. Und anstatt das nur teilweise defekte Steuergerät komplett auszutauschen, wird es aufwendig repariert. Wie, das will Werkstattchef, Tomasz Gorski, nicht im Detail verraten. „Das ist mein Patent“, sagt der gebürtige Pole. Seit drei Jahren lebt der 43-Jährige in Deutschland, seit einem Jahr werkelt der Kfz-Techniker in seinem „kleinen Labor“ im Schwabenland. Sein Wissen hat er sich auch über Internetforen und Schulungen im Ausland beigebracht. Im Autoland Deutschland sei das Angebot an Fortbildungen in diesem Bereich begrenzt. Nach eigenen Angaben gebe es bundesweit nur drei weitere freie Werkstätten, die diese Art der Reparatur anbieten. Zu hoch seien die Anforderungen, zu viel teures Equipment werde benötigt, um die Elektronik zu reparieren. Viele Aufträge gelangen deshalb auch über Google und Ebay in die Werkstatt im Waiblinger Industriegebiet. Viele Kunden kommen aus der Schweiz, aber auch aus Chile, Brasilien, der ganzen Welt.

Doch obwohl immer weniger vom klassischen Autoschrauber beim Kfz-Mechatroniker vorhanden ist, sind die Zahlen der Auszubildenden nicht rückläufig. „Niemand bildet so viel aus wie wir“, sagt Rösch. „Es macht den Beruf dadurch eher attraktiver, es ist eine neue Herausforderung.“ Es sei aber auch eine Herausforderung, junge Menschen zu finden, die die notwendige Ausbildungsreife mitbringen. Die Anforderungen seien stetig gestiegen, und sie werden weiter steigen.

Dessen ist man sich nicht nur im Kfz-Handwerk bewusst. Von Realitätsverweigerung könne deshalb keine Rede sein, meint Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbands des deutschen Handwerks: „Jeder vierte Betrieb nutzt die moderne Technologie für die Produktion.“ Auch autonomes Fahren oder E-Mobilität werden das Kfz-Handwerk nicht überflüssig machen. „Der Beruf des Kfz-Mechatronikers wird sich weiter ändern, aber seine Berechtigung behalten.“ Zumal auch in der Werkstatt in Waiblingen nicht nur Fachinformatiker arbeiten, sondern auch Mechaniker, die das defekte Steuergerät zur Reparatur ausbauen und später wieder einbauen.

Wie aber das Auto der Zukunft – und damit auch das Kfz-Handwerk der Zukunft – genau aussehen wird, wagt niemand zu prophezeien. Auch nicht Karl-Heinz Goller, Ausbildungsleiter der Handwerkskammer Reutlingen: „In den nächsten 15 bis 20 Jahren wird noch so viel kommen, das können wir uns heute gar nicht vorstellen.“ Die Anforderungen würden insgesamt jedoch nicht zunehmen. Gewisse Dinge würden eher zur Routine übergehen: „Man muss nicht mehr können, sondern nur andere Dinge“, so der Ausbildungsleiter. „Vielleicht kommt aber auch etwas ganz anderes.“

Das Ende der kleinen Schrauber

In Ulm im Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung (ZSW) entsteht eine mögliche Zukunft des Automobils. Dort werden neue Batterien entwickelt. „Es wird spannend durch den Wechsel“, sagt Werner Tillmetz , Leiter des ZSW. Vor knapp 40 Jahren hätte es für Elektrogeräte wie Fernseher noch Handwerker gegeben. Die gebe es jetzt nicht mehr. „Und im übertragenen Sinne werden solche Dinge beim Auto auch passieren“, sagt Tillmetz. Bei Elektroautos würden Aufgaben wie beispielsweise der Ölwechsel wegfallen. Mitarbeiter, die mit Hochvoltleitungen zu tun haben, müssten dafür aber bestimmte Schulungen durchlaufen. „Das kostet viel Geld“, sagt Tillmetz. Kleine freie Werkstätten werden sich diese Entwicklung nicht mehr antun können, so seine Prognose. Doch dass „Do-it-yourself-Autoschrauber“, wie Daniel Rösch sie nennt, bei der Entwicklung auf der Strecke bleiben, macht dem Kfz-Verband nichts aus. Im Gegenteil: Rösch hofft sogar, dass diese weniger werden. Der Grund: Die Sicherheit der Autos muss gewährleistet werden und dies gelinge am besten über zertifizierte Handwerker.

Gorski will hingegen bald seine Werkstatt in Waiblingen vergrößern. Er ist sich sicher, dass auch mit Blick auf autonomes Fahren die Arbeit mit Steuergeräten nicht abnehmen wird. Sie werde zwar schwieriger, denn die Geräte sollen kleiner, aber mit noch mehr Leistung ausfallen. Zusammen mit einem Kollegen will er auch ein Tesla-Auto kaufen, um herauszufinden, wie dort die Steuergeräte funktionieren und aufgebaut sind. Denn das, so glaubt er, „wird die Zukunft sein“.

Doch ähnlich wie das Unternehmen Tesla, das aus dem Nichts – also ohne Automobilhistorie – entstanden ist, könnten auch Unternehmen wie Google in den Markt eintreten. „Weil sie Geld haben ohne Ende, können sie einfach sagen: ,Ich kauf mir jetzt eine Autofirma’“, so Tillmetz. Mit ihren Angeboten wie Google Maps hätten sie beste Voraussetzungen für autonomes Fahren. „Das sind neue Themen, die die Menschen dazulernen müssen“, so Tillmetz. Darauf müsse sich auch das Kfz-Handwerk bei zunehmender Elektrifizierung einstellen: Der Umgang mit Computern wird umfangreicher und komplexer. „Da hinken wir hinterher“, sagt der Leiter des ZSW. In vier oder fünf Jahren, so glaubt er nämlich, werde E-Autofahren – wie jetzt zum Beispiel schon im US-Bundesstaat Kalifornien – zum Hype werden. Ein Aussterben des klassischen Handwerks sieht er durch die Veränderungen dennoch nicht: „Eine Welt ohne Handwerker würde nicht funktionieren.“

Im Süden gehören Handwerker zu den tragenden Säulen der Wirtschaft. Doch nicht nur die Digitalisierung, auch die Energiewende und die Suche nach Fachkräften stellt viele Betriebe vor große Herausforderungen. Wie Bäcker, Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Metzger und Schreiner mit diesen Veränderungen umgehen, zeigt die Serie „Unser Handwerk“ in der „Schwäbischen Zeitung“. Am Montag geht es um die Frage „Wie finde ich einen guten Handwerker?“. Die Serie läuft bis Ende Juni und ist online zu finden unter: