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Selbstverständlichkeit

„Das Leben wird spürbar stressiger“

Wirtschaft / Lesedauer: 3 min

Wirtschaftsphilosophin Barbara Muraca über den Zwang zum Wachstum
Veröffentlicht:02.09.2014, 19:24

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Wachstum ist in den westlichen Volkswirtschaften keine Selbstverständlichkeit mehr. Dennoch ist das Wachstum in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie weiterhin Prämisse und Ziel zugleich. Ein Umdenken wird erforderlich. Über das Warum und Wie hat Hannes Koch mit der Wirtschaftsphilosophin Barbara Muraca von der Uni Jena gesprochen.

Ein Ausgangspunkt unserer Untersuchungen besteht darin, dass Wirtschaftswachstum für Industriegesellschaften keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Die Fixierung auf Wachstum um jeden Preis verschärft sogar die Krise. Daraus ergeben sich drängende Fragen: Nimmt die Stabilität unserer Gesellschaften ab, wenn wir weniger Wachstum haben? Wie lässt sich eine neue Stabilität jenseits des Wachstums erreichen? Wir machen uns Gedanken, welche Krisen entstehen könnten, aber auch, welche alternativen Wege möglich wären.

Deutschland geht es augenblicklich gut. Trotzdem nehmen seit der Finanzkrise die Zweifel am Wachstum zu. Warum?

Viele Menschen machen sich Sorgen darüber, dass der Druck auf die Umwelt weiter steigt. So wächst weltweit der Ausstoß klimaschädlichen Kohlendioxids, obwohl man ihn reduzieren müsste. Das globale Wachstumsmodell hat einen gefährlich hohen Preis, den meistens Menschen in anderen Erdteilen zahlen. Außerdem haben viele Bürger den Eindruck, dass das große Versprechen, Wachstum würde die Lebensqualität steigern, nicht mehr eingelöst wird. Viele leiden beispielsweise unter der extremen Beschleunigung bei der Arbeit. Die Flut der E-Mails, der Zeit- und Leistungsdruck – nicht nur für Manager ist das Leben stressig, auch die Mittelschicht spürt das.

Wünschen auch Sie sich, dass die Wirtschaft nicht mehr wächst?

Wenn das Fahrrad nicht fährt, kippt es um. Es geht nicht darum, dass unter gleichbleibenden Bedingungen die Wirtschaft einfach aufhört zu wachsen. Unsere Gesellschaft muss anders organisiert werden, damit sie ohne den Zwang zum Wachstum stabil und demokratisch bleibt.

Halten Sie es für ein mehrheitsfähiges Modell, wenn wir weniger arbeiten und weniger Konsumgüter einkaufen?

Grundsätzlich ja. Es geht darum, Arbeit neu zu denken. Erzieherische, sorgende und pflegerische Tätigkeiten müssen anders verteilt werden. Für die Lohnarbeit steht dann weniger Zeit zur Verfügung.

Könnten nicht Innovationen wie das Internet oder die Ausdehnung der Exportmärkte in Asien und Afrika den Zuwachs wieder steigen lassen?

Selbst in China gehen die Wachstumsraten zurück. Wenn ein bestimmter Wohlstand erreicht ist, kann kein Land das hohe Wachstumstempo aufrechterhalten. Auch die Bedürfnisse der chinesischen Mittelschicht sind irgendwann gestillt. Soll die Expansion dann noch weitergetrieben werden, geht sie auf Kosten anderer Menschen. So sichern sich chinesische und europäische Firmen den Zugriff auf Ackerland und Bodenschätze weltweit, damit der Laden zu Hause weiterläuft.

Aber es gibt doch auch Wachstum, das unschädlich ist. Der Ausbau der erneuerbaren Energien zum Beispiel.

So einfach ist das nicht. Auch Solarkraftwerke beanspruchen Land, das für die Produktion von Nahrungsmitteln nicht mehr zur Verfügung steht. Für die Herstellung von Wind- und Sonnenenergieanlagen braucht man Eisen und andere Metalle, die aus der Erde geholt werden. Wir entkommen den schädlichen Auswirkungen unserer Produktionsweise nicht – es sei denn, wir verringern unseren Energieverbrauch dramatisch.

Japan versucht seit fast 20 Jahren eine neue Dynamik zu entfachen – ohne großen Erfolg. Steht uns das auch bevor?

Tatsächlich muss sich die Forschung mehr mit Japan beschäftigen. Was dort passiert, könnte uns helfen zu verstehen, was auf uns zukommt.