StartseiteSportDer Mann, der niemals aufgibt

Krankenakte

Der Mann, der niemals aufgibt

Sport / Lesedauer: 4 min

Der Ulmer Zehnkämpfer Arthur Abele hat schwerste Verletzungen überwunden – und gilt plötzlich als Medaillenkandidat für Rio
Veröffentlicht:27.06.2016, 21:42

Von:
Artikel teilen:

Die Krankenakte des Ulmer Zehnkämpfers Arthur Abele liest sich wie die Wochenbilanz der Neuaufnahmen in einer Orthopädie: Der 29-Jährige hatte in seinem Leben bereits Probleme mit Hüfte, Knie und Fuß, einen Nabel- und Leistenbruch, einen Bänderriss, Ermüdungsbruch und eine Schambeinentzündung, die ihn chronisch quälte. Seit Olympia 2008 in Peking, als ihn ein Muskelbündelriss zur Aufgabe zwang, hatte Abele sechs Jahre lang keinen Zehnkampf mehr bei einem Großereignis bestritten. Als er in Zürich bei der EM 2014 als Fünfter mit persönlichem Rekord von 8477 Zählern ein glänzendes Comeback feierte, konnten das viele kaum glauben: „Wenn man so lange weg ist, ist man eigentlich tot“, staunte der frühere WM-Zweite Frank Busemann. Im Frühjahr 2015 legte der tot geglaubte Abele Silber bei der Hallen-EM nach, Ende April allerdings kassierte er den nächsten Rückschlag: Achillessehnenriss, beim Hochsprungtraining.

Manch ein Mensch wäre spätestens jetzt an sich, der bösen Welt, am Schicksal und seinem Körper (ver)zweifelt. Der in Aalen auf der Ostalb aufgewachsene Abele aber ist offenbar aus härterem Holz geschnitzt, die Opferrolle liegt ihm nicht. Er werde stärker denn je zurückkommen, verkündete er am Tag nach der Operation, „heute beginnt die Vorbereitung für Rio“. Mit Hilfe der Isokinetik, einer gelenkschonenden Trainingstherapie, machte er in der sechswöchigen Reha in Bad Griesbach im Schwarzwald derartige Fortschritte, dass er den normalen Heilungsverlauf um vier Monate verkürzte – unter Aufsicht von Siggi Wentz übrigens, dem früheren Weltklassezehnkämpfer und heutigen Mediziner. Er verdanke Wentz extrem viel, sagt Abele, „ich muss mich an dieser Stelle noch einmal dafür entschuldigen, dass ich seine Maschinen fürs Krafttraining dreimal zerlegt habe“, scherzt er. Bereits im Dezember nahm Abele wieder an Wettkämpfen teil, am Sonntagabend erhielt er die Quittung für seine Beharrlichkeit und den Glauben an sich.

Als er in Ratingen nach den 1500 Metern ins Ziel kam, hatte Arthur Abele nicht nur wie 2007 gewonnen, er hatte seine Bestleistung auf famose 8605 Zähler gesteigert – und das bei miserablen Bedingungen. Am zweiten Tag hatte er 4339 Zähler gesammelt, nur drei weniger als Ashton Eaton (USA) bei seinem Weltrekord 2015 in Peking (9045). Kein Zehnkämpfer war 2016 stärker, Abele darf nun sogar von einer Olympiamedaille träumen.

„Schlechtes Wetter existiert nur in den Köpfen der Gegner“, „Sieger zweifeln nicht, Zweifler siegen nicht“, „Wer über Verletzungen redet, verletzt sich auch“ – solche Botschaften hat sich Abele im Lauf der Jahre eingehämmert, Positiv-Peitschen für alle Erfolgreichen. Ob sie immer funktionieren, ob er tatsächlich nie zweifelt, bleibt mal dahingestellt. Wie es im Innenleben des 1,84 Meter großen Kraftpakets aussah, dass auch Abele Gefühle hat, war in Ratingen schnell zu erkennen. Kaum war er im Ziel, brach er in Tränen aus, übermannt von sich selbst: „Ich habe geheult wie ein Schlosshund, vor allen Leuten“, sagt Abele. „Das war irre! Wie ein Befreiungsschlag.“

Tatsächlich hat der Sportsoldat, noch einmal gezeigt, über welch immenes Potenzial er verfügt. Eigentlich war es Abele nur darum gegangen, 8100 Zähler zu schaffen, die Norm für Rio , nachdem er in Götzis nach drei ungültigen Versuchen im Kugelstoßen noch ausgeschieden war. Aber er wuchs über sich hinaus: In allen drei Wurfdisziplinen, einst seine Schwächen, glückten ihm Bestleistungen, ein Resultat der „extrem harten Arbeit“, die er mit Heimtrainer Christopher Hallmann leistet, mit dem er in der Reha-Phase Stöße und Würfe im Sitzen übte. Mit den Zehnkämpfern Mathias Brugger und Tim Nowak, die an der EM in Amsterdam teilnehmen, habe er beim SSV Ulm eine Trainingsgruppe gefunden, die auf höchstem Niveau arbeite und sich gegenseitig pushe und motiviere, sagt Abele.

Noch Luft nach oben

Im Stoßen (15,79) hat er noch einen halben Meter Luft nach oben, auch über die 100 Meter, wo er mit den 10,95 Sekunden – bei Regen und Gegenwind gelaufen – haderte. Potenzial für 8700 Punkte wäre also da. Er habe noch „Luft nach oben“, räumt Abele ein. Natürlich träumt er von einer Medaille in Rio, weiß allerdings: „Olympia wird noch einmal ein ganz anderer Wettkampf, in Peking hab ich’s erlebt. Ich mache mir da keinen Druck.“

Von allem Druck befreit gönnte sich Arthur Abele noch ein Bier, als er am Sonntag um 23.15 Uhr, nach vierstündiger einsamer Autofahrt in Neu-Ulm ankam, wo er mit seiner Freundin Susan wohnt. Seine größte Siegprämie nahm er am nächsten Tag in Empfang – Söhnchen Jay Travis, elf Wochen alt: „Ich habe ihn erst mal geknutscht und geknuddelt“, erzählt er, „der ist so süß.“ Arthur Abele, der Zehnkämpfer, der niemals aufgibt, hat offenbar sein Glück gefunden.