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Defensivstrategie

„Defensivstrategien sind viel einfacher zu trainieren“

Sport / Lesedauer: 6 min

Professor Daniel Memmert erklärt, wie die Spielanalyse den Fußball verändert – und wie er der DFB-Elf hilft
Veröffentlicht:23.06.2016, 21:15

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Fußball ist mittlerweile eine Wissenschaft. Vorbei sind die Zeiten, in denen der Ball einfach nur ziellos in den Strafraum gepasst wurde.

Professor Daniel Memmert analysiert an der Sporthochschule Köln das Fußballspiel und erklärt Marvin Weber im Interview, warum der Heimvorteil für Frankreich bei der EM im eigenen Land verschwindend gering ist und wie sich der Fußball aufgrund von Analysen in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat.

In der Bundesliga ist immer die Rede vom Heimvorteil. Gilt der auch für Frankreich bei der Europameisterschaft im eigenen Land?

Rein statistisch gesehen ist es bei Turnieren wie Europameisterschaften oder Weltmeisterschaften natürlich nicht möglich, genaue Aussagen zu machen, weil die Fallzahl der Turniere zu gering ist. Aber theoretisch betrachtet können die Fans, die das eigene Team anfeuern, schon für einen gewissen Heimvorteil sorgen. Es gibt aber auch die Kehrseite des Heimvorteils: Wenn Mannschaften unter zu hohem Druck stehen und die Erwartungen der Fans zu groß sind und die Spieler daran zerbrechen. Das konnte man zum Beispiel bei den Brasilianern bei ihrer WM im eigenen Land beobachten.

Inwiefern beeinflusst der „zwölfte Mann“ überhaupt das Spiel?

Die Zuschauer können vor allem den Schiedsrichter beeinflussen. Zu diesem Bereich haben wir eigene Studien durchgeführt, die ergaben, dass Gastmannschaften im Durchschnitt eine dreiviertel gelbe Karte mehr bekommen als die Heimmannschaft. Das resultiert daraus, dass die Schiedsrichter unbewusst durch die Reaktion der Fans bei einem Foul leicht beeinflusst werden.

Was sind Ihre Aufgaben als Sportwissenschaftler?

Wir untersuchen psychologische Faktoren wie Aufmerksamkeit, Antizipation, Kreativität, Spielintelligenz oder Motivation und versuchen herauszufinden, wie man diese Faktoren trainieren kann, um sportliche Leistungen zu optimieren. Ein zweites großes Standbein unserer Arbeit ist die Spielanalyse, bei der wir unter anderem auch die deutsche Nationalmannschaft betreuen. Wir versuchen beispielsweise in einem Projekt mit der DFL Kenngrößen zu ermitteln, die Leistung erklärbar und analysierbar zu machen.

Inwiefern ist Kreativität in Zeiten, in denen Mannschaften mit großen Analyseteams bereits vor dem Spiel den Gegner bestens kennen, wichtig ?

Die Kreativität hat in den vergangenen Jahren einem immer größeren Stellenwert bekommen. Die Mannschaften sind bestens aufeinander vorbereitet. Deswegen ist es umso wichtiger, dass die Spieler immer noch in der Lage sind, ungewöhnliche und vor allem unerwartete Lösungen anzubieten und Dinge zu tun, auf die der Gegenspieler nicht eingestellt ist. Diese Kreativität kann man nicht nur im Kindesalter gut trainieren.

Sie arbeiten viel mit Positionsdaten, erklären Sie das einmal bitte.

In diesem Bereich sind wir an der Sporthochschule Köln absoluter Spezialist in Deutschland und beschäftigen uns bereits seit zwölf Jahren mit dem Thema. Wir haben dazu eigene Softwaresysteme entwickelt, mit denen man relativ schnell Spiele analysieren kann. Dabei spielen drei Leistungskennzahlen eine wichtige Rolle: die Raumkontrolle, der Pressingindex, das heißt, wie stark eine Mannschaft zum Ball verdichtet, und drittens das Überspielen der Gegenspieler, was seit dieser EM unter dem Begriff „Packing“ bekannt ist.

Für viele Fußballfans ist der Begriff „Packing“ ein rotes Tuch. Was bedeutet er genau?

Wir bezeichnen das Packing auch als Druckeffizienz. Das heißt, wie gut ein Fußballer in Drucksituationen in der Lage ist, Gegenspieler zu überspielen. Dabei sind wiederum drei Parameter von Bedeutung: Einmal die überspielten Spieler und wie viel Druck der Passgeber hatte und derjenige, der den Pass verarbeiten muss. Die Ergebnisse zur Druckeffizienz auf der Basis von Positionsdaten liefern einen signifikanten Beitrag dazu, ob Mannschaften verlieren oder gewinnen.

Hat sich das Fußballspiel auch durch Ihre Analysen merkbar verändert? Franz Beckenbauers „Geht's raus und spielt's Fußball!“ vor dem WM-Finale 1990 wäre heute nicht mehr denkbar oder?

Nein, eine so ungenaue Spielanweisung ist heute nicht mehr möglich, weil die Spiele viel zu sehr analysiert werden. In manchen Bereichen, wie dem physiologischen, sind wir in den vergangenen Jahren an Grenzen gestoßen. Dort sind mittlerweile Teams aus der 3. Liga fast auf dem selben Stand wie Bundesligateams. Aber besonders bei der Taktik und im kognitiven Bereich ist noch die meiste Luft nach oben.

Wie sieht Ihre Zusammenarbeit mit der deutschen Nationalelf aus?

Unser Institut unter der Federführung von Martin Vogelbein unterstützt die Nationalmannschaft bei den Gegneranalysen. Mit der Hilfe von 50 Studierenden werden seit zwei Jahren die Gegner analysiert und und dabei Dossiers erstellt, die wir dann an den DFB weiterleiten.

Es wird bemängelt, dass durch den erweiterten Turniermodus mit mehr Mannschaften schlechtere Spiele zu sehen sind. Gibt es einen messbaren Unterschied zum alten Turniermodus?

Den gibt es: In der Vorrunde sind in 36 Begegnungen lediglich 69 Treffern gefallen. Das entspricht einer Quote von 1,92 Toren pro Spiel, und somit ist diese Europameisterschaft zumindest nach der Gruppenphase eine der torärmsten der EM-Geschichte. Das hat meiner Meinung nach schon mit dem neuen Modus zu tun. Zum einen kann man bei dieser EM auch mit einem Unentschieden glücklich als Gruppendritter weiterkommen. Zum anderen sind Defensivstrategien viel einfacher zu trainieren als Offensivstrategien, vor allem wenn man wenig Vorbereitungszeit hat wie die Nationaltrainer. Viele der vermeintlich schwächeren Mannschaften legen deswegen ihren Fokus auf die Deffensive und hoffen auf Tore durch Konter und Standardsituationen.

Jogi Löw spielt häufig mit einer 4-2-3-1-Formation. Gibt es eine Taktik, die besonders erfolgversprechend ist?

Die kleineren Nationen setzten bei dieser EM auf eine Fünferkette, was auch Sinn macht. Davor stehen dann oftmals vier Mittelfeldspieler und ein Stürmer. Das hat sich, wenn man sich die Ergebnisse anschaut, auch als gute Strategie herausgestellt. Ähnlich machen es viele Teams in der Bundesliga, die gegen Bayern München spielen müssen und in der Außenseiterrolle sind.

Gibt es durch die wissenschaftliche Brille gesehen eine Mannschaft, die Sie in der Vorrunde am meisten überzeugt hat?

Aus rein wissenschaftlicher Sicht nicht, aber ich glaube, dass Kroatien eine große Rolle spielen wird. Die Kroaten haben mit Modrić, Rakitić, Perišić und Mandžukić einerseits einige hochkarätige Einzelspieler und haben andererseits aber auch eine gute Mannschaftsleistung abgeliefert. Wenn es Kroatien schafft, Portugal zu schlagen, haben sie gute Chancen auf das Finale – auch aufgrund der leichteren Hälfte des Spielplans. Außerdem sehe ich neben der deutschen Mannschaft auch die Italiener und Spanier als Favoriten auf den Titel.

Können Sie denn privat noch entspannt ein Fußballspiel gucken?

Ich kann ein Spiel der deutschen Mannschaft schon noch mit Emotionen verfolgen, sehe die Spiele aber natürlich auch immer ein wenig durch die taktische Brille.