StartseiteRegionalRegion AllgäuLeutkirchKalle Riedle ist zuhause in Europa, aber im Allgäu daheim

Fußball-Welt

Kalle Riedle ist zuhause in Europa, aber im Allgäu daheim

Leutkirch / Lesedauer: 8 min

Kalle Riedle ist zuhause in Europa, aber im Allgäu daheim
Veröffentlicht:16.04.2013, 10:50

Artikel teilen:

Der ehemalige Fußball-Nationalspieler Karl-Heinz Riedle hat nicht nur den sportlichen Reiz Italiens und Englands lieben gelernt, sondern auch Kultur und Menschen, die ihm während seiner Karriere in Europa begegnet sind.

Nebel hängt in den Baumwipfeln, der Wind treibt Regenschauer über die Felder, kurzum: Es ist ziemlich gräuslich. Karl-Heinz Riedle, den die Fußballwelt nur als Kalle Riedle , später auch als Air Riedle (seiner trotz nur 179 Zentimetern überdurchschnittlichen Kopfballfertigkeit wegen) kennt, schaut dennoch sehr zufrieden drein. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass ihm das schmucke Viersterne-Sporthotel Evviva („Es lebe“) samt angeschlossenem Jugend-Fußballcamp im nicht minder schmucken Kurort Oberstaufen gehört. Es hat auch damit zu tun, dass Karl-Heinz Riedle hier daheim ist. Kalle Riedle hat sich die Welt angeguckt und ist dann wieder im Allgäu gelandet, wo der Herrgott ausprobiert haben muss, wie das Paradies aussehen soll.

Sportliche Stationen hat Riedle viele hinter sich: Ellhofen, Weiler, FC Augsburg, Blau-Weiß 90 Berlin, Werder Bremen, Lazio Rom , Borussia Dortmund, FC Liverpool, FC Fulham (London). Das war der Sport. Jetzt also Oberstaufen. Der Kreis hat sich geschlossen. Ein erfolgreicher, ein spektakulärer, ein schöner Kreis. „I bin vom Naturell her eher weltoffen – obwohl ich ein Allgäuer bin.“ Karl-Heinz Riedle lächelt.

Eine Kämpfernatur

Der Homo Allgäuensis ist vom Naturell her kein Kosmopolit. Wenn ihn das Schicksal zum Weltenbummler macht, dann hängt er dennoch sehr an „drhoim“, doch er arrangiert sich. Und er setzt sich durch, denn Zähigkeit und Durchsetzungskraft – die raue Natur prägt die Menschen – gehören zum Allgäuer wie die Maulfaulheit und das In-sich-Gekehrte.

Auch Karl-Heinz Riedle, geboren am 16. September 1965 in Weiler im Allgäu , musste sich durchkämpfen. Denn vor den Werdegang zum Ball-Promi hatte sein Papa die Pflicht einer Lehrlingsausbildung als Metzger gesetzt, eine Zeit an die sich der 42-fache Nationalspieler mit höchst gemischten Gefühlen erinnert, wie er im Interview mit dem Fachmagazin 11 Freunde klarstellt: „Diese Lehre war sozusagen mein Abhärtungsmittel und der Grund, warum ich unbedingt Fußballprofi werden wollte“, sagt Riedle heute. Metzger habe er nie werden wollen, der Vater habe es so entschieden. „Er hatte ein Geschäft und ich war der einzige Sohn mit vier Schwestern. Er hat mir das zur Bedingung gemacht, den Beruf zu erlernen, falls mal etwas Unvorhergesehenes passiert. Für mich war es eine harte Lehre, aber vielleicht hat es mir auch viel geholfen.“

Zweitbester Bundesligatorschütze hinter Jürgen Klinsmann

Lehrjahre, drei Euro ins Phrasenschwein, zumal solche in blutigem Kittel, sind keine Herrenjahre. Spätere Herrenjahre hatten nichts mit dem Messer in der Hand, sondern mit dem Ball am Fuß zu tun. Seine fußballsportliche Lehrzeit beim FC Augsburg mündete rasch in ein Engagement bei Blau-Weiß 90 Berlin, wo der Jungspund rasch zum Torjäger aufstieg. Blau-Weiß stieg postwendend wieder ab, Riedle sportlich auf, denn bei seinem neuen Verein Werder Bremen wurde er 1987 mit 18 Saisontoren zweitbester Bundesligatorschütze hinter Jürgen Klinsmann. Die WM in Italien 1990 folgte und Riedle blieb gleich in jenem Land, in dem damals für herausragende Fußballer Milch und Honig floss.

Der freiwillige Sport-Emigrant ist heute noch voll des Lobes für sein Gastland. „Mein Berater hatte die richtigen Kontakte und das mit Lazio Rom war schon vor der WM klar.“ Riedle nahm schon in Bremen Italienisch-Unterricht und arbeitete in Rom mit einem Studenten weiter an seinen Sprachkenntnissen. „Nach einem halben Jahr konnte ich schon im Fernsehen auftreten – kein Problem. Rom war toll, die Leute ausgesprochen angenehm – eine meiner schönsten Stationen.“

Auch der Sohn ist Fußball-Profi

Dass sein Sohn Alessandro heißt, dokumentiert die Verbundenheit zu Italien. Der 22-Jährige ist ebenfalls Profi-Fußballer. Momentan kickt Riedle Junior, Ältestes von drei Kindern, nach Stationen beim VfB Stuttgart und Grashoppers Zürich bei Bellinzona im Tessin – die Fußball-Welt ist weitläufig für einen Riedle.

Wer einmal mit Lazio ganz oben in der italienischen Meisterliga Seria A gespielt und drei Jahre lang das Leben in Rom genossen hat, geht normalerweise nur ungern weg. Doch die deutsche Nationalelf – immerhin seit 1990 mit Riedle amtierender Weltmeister – war der stärkere Anreiz. Weil Bundestrainer Berti Vogts vor der WM 1994 in den USA seine nationalen Elitespieler am liebsten ganz nah bei sich in der Bundesliga unter Beobachtung haben wollte, hieß die nächste Station nach Rom Dortmund – unter den Städteperlen Europas nicht gerade die berauschendste. Riedle („Die Fans und das Stadion dort sind super“) fühlte sich dennoch und trotz etlicher Sportverletzungen wohl in Westfalen und wurde mit seinen zwei Toren im Endspielsieg (3:1) der Champions League gegen Juventus Turin 1997 im Olympiastadion in München zur schwarz-gelben Ikone. Trotzdem packte Riedle Ende der Saison wieder seine Koffer und wechselte zum englischen Rekordmeister FC Liverpool.

Man gewöhne sich an den britischen schwarzen Humor

Riedles Augen leuchten noch heute, wenn er an die Zeit auf der Insel denkt: „Das absolute Highlight. Ich hatte schon meine Bedenken, aber das hat sich alles in Nichts aufgelöst. In der Premier League und bei solch einem Traditionsverein wie Liverpool haben sie die absolut besten Fans – das ist noch einmal ein I-Tüpfelchen mehr als in Italien.“ Vorurteilen gegenüber Deutschen sei er nicht begegnet und dem gewöhnungsbedürftigen Insel-Humor, der alles was Deutsch ist mit Krieg, einem Schnurrbart und einer rabenschwarzen Vergangenheit in Zusammenhang bringt, habe er bald als das eingestuft, was es ist: typisch britisch: „Der Humor ist schon ein bisschen schwarz – aber da gewöhnt man sich dran.“

Wie auch an den Umstand, dass auf der Insel nichts so verhasst ist, wie Schauspieler auf dem Platz, die Freistöße und Elfmeter herausschinden wollen. Im Interview mit 11 Freunde erinnert sich Riedle an sein erstes Zusammentreffen mit Wimbledons legendärem Kampfschwein Vinnie Jones, der nicht umsonst auf den Kampfnamen „Die Axt“ hörte: „Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich einen Fuß von ihm im Gesicht hatte“. Zu England gehört eben auch englische Härte – im Geben, wie im Nehmen: „Ich lag als sterbender Schwan am Boden, als mich plötzlich mein Teamkollege Steve McManaman packte, mich hochzog und anschnauzte: Junge, das kannst du in fucking Germany machen!“

England: ein Fußballmärchen. In dem sogar das auf dem Kontinent vielgeschmähte Essen eine Bereicherung ist („Lamm mit Pfefferminzsoße, da habe ich anfangs auch gedacht: auweia. Aber das ist lecker.“) und nur das Bier („I trink‘ lieber Weizen“) so gewöhnungsbedürftig wie der Linksverkehr.

Hoffnung für Krisen-Europa

Das Leben in Rom, die Jahre in Liverpool und später in London beim FC Fulham haben jedenfalls den Allgäuer Horizont europaweit geöffnet: „Meine Spielzeiten in Italien und in England haben mein Leben bereichert. Ich habe einen anderen Blick für vieles bekommen, spreche zwei Fremdsprachen und habe überhaupt viel mitgenommen.“ Hat er die Hoffnung, dass das krisenumwölkte Europa doch eine Zukunft hat? „Momentan schaut’s net ganz so lustig aus und ich tu‘ mich auch schwer zu glauben, dass in Zukunft alle gleich europäisch denken. Ein Italiener bleibt ein Italiener, ein Spanier ein Spanier und ein Engländer behält erst recht seine Eigenarten. Ob das mit dem noch enger zusammenrücken klappt – ich weiß nicht so recht. Obwohl – im Großraum London, wo 20 Millionen Menschen total multikulti zusammenleben, da funktioniert es ja auch. Wenn man die verschiedenen Mentalitäten akzeptiert, wenn sich die verschiedenen Mentalitäten annehmen, dann kann es klappen.“

Bloß nicht hochnäsig werden

Nationalen Tönen steht Riedle reserviert gegenüber. Wenn Ex-Nationaltorhüter Oliver Kahn nach dem Champions League-Halbfinale (Real Madrid, FC Barcelona, Borussia Dortmund, FC Bayern) feststellt, dass der spanische und der deutsche Fußball Europa dominieren, dann zieht Riedle die Augenbrauen sehr sacht, aber sehr entschieden hoch: „Ganz vorne in der Leistungsspitze, ja, da haben Bayern und Dortmund aufgeholt. Aber ansonsten kann man das nicht behaupten. In der Breite dominiert Deutschland nicht. Wenn ich an die Europaleague-Spiele des VfB gegen Lazio denke (Stuttgart schied überaus sang- und klanglos aus) – das war eine Vorführung.“

Bloß nicht hochnäsig werden: Auch das hat er von seiner Europareise mitgenommen. Und eine kleine Prise Fernweh auch. Trotz der Zufriedenheit im schönen Allgäu hat die große Welt mit kleinen Einschränkungen „(Jeden Tag den Stress in der Großstadt – des brauch i nimmer“) ihren Reiz nie verloren. „Kürzlich war ich mit meiner Frau drei Tage in London – das war richtig toll.“ In Oberstaufen daheim und in der Welt zu Hause – aus Kalle Riedle ist ein richtiger Europäer geworden.

Mehr zur Person

Karl-Heinz Riedle wurde am 16. September 1965 in Weiler/Allgäu geboren. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Seine Vereine: TSV Ellhofen, SV Weiler (Jugend), FC Augsburg (1983-1986), Blau-Weiß 90 Berlin (1986 – 1987), Werder Bremen (1987 – 1990), Lazio Rom (1990 – 1993), Borussia Dortmund (1993 – 1997), FC Liverpool (1997 – 1999), FC Fulham (1999 – 2001)

Seine Titel: Weltmeister 1990; Champions-League-Sieger 1997; Deutscher Meister: 1988, 1995, 1996; Vize-Europameister 1992; Bronze bei den Olympischen Spielen von Seoul 1988.

42 Länderspiele