StartseiteRegionalRegion AllgäuWangenUmweltkrank: Leben in der Isolation

Vergiftung

Umweltkrank: Leben in der Isolation

Wangen / Lesedauer: 7 min

Nach einer Quecksilbervergiftung durch den Zahnfüllstoff Amalgam hat Marlene Winands eine schwere Umweltkrankheit
Veröffentlicht:24.11.2014, 07:00

Von:
Artikel teilen:

Marlene Winands ist gefangen. Gefangen in ihrem eigenen Körper, der kaum mehr als 40 Kilogramm auf die Waage bringt. In einem Körper, dessen Immunsystem ständig verrückt spielt, weil seine Antikörper den eigenen Organismus angreifen. In einem Körper, dessen Lebensflamme, so sagt sie, nur noch sehr klein ist. Und der trotzdem noch nicht aufgibt. „Dass ich immer noch hier bin, ist ein Wunder“, sagt sie.

Die ehemalige Zahnarzthelferin aus Wangen leidet an Multipler Chemikalien Sensibilität (kurz MCS), einer Umweltkrankheit, die ihr ein normales Leben unmöglich macht. Schon kleinste Mengen Duftstoffe, zum Beispiel aus herkömmlichen Schampoos, Waschmitteln oder Kosmetik, lösen bei ihr heftige Reaktionen aus. „Es fängt meist damit an, dass die Nase läuft. Dann wird mir wird schwindelig, ich bekomme Sehstörungen, Herzrasen, Kopf und Zähne fangen an, wehzutun“, erzählt die 62-Jährige. Der Schmerz in den Zähnen war überhaupt das erste Symptom, das von Marlene Winands MCS aufgetreten ist, ausgerechnet morgens beim Zeitung lesen. „Plötzlich konnte ich die Chemikalien aus Papier und Druckerschwärze nicht mehr ertragen, musste die Zeitung sofort aus dem Haus schaffen“, erinnert sie sich.

Monate im Krankenhaus

Das war vor 14 Jahren. Damals hat Marlene Winands bereits eine jahrelange Odysee von Arzt zu Arzt hinter sich. Denn schon Jahre vorher ist sie mehr krank als gesund: Mit 23 bekommt sie eine Herzmuskelentzündung, eine Rippenfellentzündung, eine Lungenentzündung und eine Thrombose – gleichzeitig. Und verbringt Monate im Krankenhaus. „Da bin ich dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen“, sagt sie heute. Es folgen chronische Magen-Darm-Probleme, Zysten im Gesicht, deren Ursache kein Arzt erklären kann, Gelenkschmerzen. Erst viele Jahre später wird sie von dem Umweltmediziner Kurt Müller aus Kempten erfahren, was in dieser Zeit mit ihrem Körper los ist: Er kämpft gegen eine Quecksilbervergiftung aus dem Zahnfüllstoff Amalgam. „Das Quecksilber hat dazu geführt, dass sich die Zellen von Marlene Winands entzunden haben. Diese jahrelangen, chronischen Entzündungen haben am Ende die MCS ausgelöst“, erklärt Dr. Kurt Müller, Vorsitzender der Europäischen Akademie für Umweltmedizin.

16 Jahre alt ist Marlene Winands, als sie ihre Ausbildung zur Zahnarzthelferin beginnt. Damals, 1968, ist sie eine gesunde, lebensfrohe junge Frau. „Die Arbeit mit Amalgam hat zu meinen täglichen Aufgaben gehört“, erzählt sie. Zwischen Daumen und Zeigefinger habe sie es für die Zähne ihrer Patienten in Form gebracht – ohne Schutz. Dabei besteht Amalgam zur Hälfte aus Quecksilber. Und das gilt als das giftigste nicht-radioaktive Element der Welt.

Seit über 150 Jahren wird Amalgam als Zahnfüllstoff verwendet und fast genau so lange ist sein Einsatz umstritten. In Schweden, Norwegen und in Dänemark ist es mittlerweile sogar verboten. In Deutschland ist Amalgam noch immer die Regelversorgung für Füllungen in den Backenzähnen. Das bedeutet: Wenn sich ein gesetzlich versicherter Patient für ein alternatives Zahnfüllmaterial entscheidet, muss er die Differenz zur preiswerteren Amalgamfüllung aus eigener Tasche bezahlen. Laut Bundeszahnärztekammer geht von dem billigen Zahnfüllmaterial keine Gefahr aus, da das Quecksilber im Amalgam an andere Metalle gebunden sei. „Amalgamfüllungen sind dauerhafte, bewährte und unter gesundheitlichen Aspekten sichere Füllungen“, sagt Dr. Klaus Ott, Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung am Universitätsklinikum Münster. Quecksilberdampf, wie er beispielsweise beim Zerbrechen von Energiesparlampen und alten Thermometern austreten kann, hält allerdings auch er für gefährlich. „Wenn dieses zerbricht, wird der giftige Dampf freigesetzt, was toxikologisch wesentlich bedeutsamer ist“, erklärt er.

Körper mit Entgiftungsschwäche

Denn reines Quecksilber hat eine fatale Eigenschaft: Es verdampft schon bei Raumtemperatur. Jahrelang atmet auch Marlene Winands bei ihrer Arbeit mit dem Amalgam diese Dämpfe ein. Ohne auch nur zu ahnen, was sie ihrem Körper damit antut. Denn Marlene Winands hat eine Entgiftungsschwäche. Ihr Körper kann das Quecksilber aus dem Amalgam nicht, beziehungsweise nicht gut abbauen. „Man kann sich das in etwa so wie beim Alkoholkonsum vorstellen. Wenn zehn Leute diesselbe Menge trinken, geht es allen unterschiedlich. Und manchen geht es eben richtig schlecht“, erkärt Dr. Kurt Müller.

Aber auch hinsichtlich des gebundenen Quecksilbers im Amalgam gehen die Meinungen innerhalb der Zahnärzteschaft weit auseinander. Längst nicht alle Zahnärzte halten es für unbedenklich. „Aus den Füllungen kann, beispielsweise beim Kauen oder bei einer Zahnreinigung, kontinuierlich Quecksilberdampf austreten und in den Körper gelangen“, erklärt der Zahnarzt Dr. Holger Scholz aus Konstanz. Eine kanadische Studie an Schafen und Affen beweise sogar, dass Quecksilber über den Kieferknochen in den Körper gelangen könne. „Und da setzt es sich dann vornehmlich in Organen und Gehirn ab“, sagt Scholz. Er hat sich mit seiner Praxis auf die sichere Entfernung von Amalgamfüllungen spezialisiert. Denn auch hier würden, sogar noch verstärkt durch die Reibung des Bohrers, Quecksilberdämpfe frei. „Ich hatte vor vielen Jahren ein prägendes Erlebnis, als wir einem Patienten Amalgamfüllungen ohne Schutz entnommen haben. Der Patient ist direkt danach sehr krank geworden, seine Genesung hat lange gedauert.“ Seitdem entfernt er die Füllungen nur unter größten Sicherheitsmaßnahmen: Die Patienten werden durch einen Kofferdamm und eine Brille geschützt, er selbst und seine Zahnarzthelferinnen tragen spezielle Schutzmasken und werden mit Sauerstoff von außerhalb des Behandlungszimmers versorgt. Die Luft aus dem Zimmer wird aufwendig gefiltert. „Das Amalgam, das wir aus den Mündern unserer Patienten entfernen, muss als Sondermüll entsorgt werden“, erzählt Scholz. Für ihn sage das eigentlich schon alles. Die meisten Menschen, die Holger Scholz behandelt, sind krank, wenn sie zu ihm kommen. Vielen geht es nach der korrekten Amalgamentfernung, so sagt er, besser. „Einige müssen ihren Körper nach der Amalgamentfernung allerdings zusätzlich noch entgiften.“ Aus diesem Grund arbeite er eng mit einem Umweltmediziner zusammen.

Reiner Sauerstoff hilft

Für Marlene Winands gibt es keine Heilung mehr. „Mein Arzt hat gesagt, dass er mir nicht mehr helfen kann“, sagt sie. Zu lange sei das Quecksilber in ihrem Körper gewesen und habe Zellen und Organe angegriffen. Mittlerweile erträgt sie eigentlich fast nichts mehr: Möbel gibt es keine in ihrer Wohnung, sie schläft auf einer einfachen Pritsche. Oder im Krankenhaus, wenn schon wieder etwas an ihrem Körper versagt. Kleidung kauft sie nur, wenn sie zu 100 Prozent aus Naturfasern besteht. Und selbst die muss sie, bevor sie sie tragen kann, mit einem Aktivkohlevlies vorbehandeln. Ständig ist sie an einen Beatmungsschlauch angeschlossen, der reine Sauerstoff tut ihrem chronisch kranken Herzen gut. Außerdem hilft er ihrem Körper beim Umgang mit Chemikalien. Denn irgendetwas liegt immer in der Luft. Und weil Marlene Winands die Welt und ihre Chemikalien einfach nicht mehr erträgt, hält sie Kontakt zu anderen Menschen fast nur übers Telefon. Berührungen, eine Umarmung – das ist für sie kaum denkbar. Außer, wenn ihre Schwestern oder ihr Sohn zu Besuch kommen. „Die haben sich komplett auf mich eingestellt, benutzen parfümfreie Dusch- und Waschmittel und tragen auch Kleidung aus Naturfasern“, erzählt sie.

Ihre Gedanken und Gefühle hat Marlene Winands in einem Gedichtband aus Umweltpapier zusammengefasst. Die Verse sind ihr Sprachrohr zu der Welt, zu der sie sonst keinen Zugang hat. Doch sie habe gelernt, Körper und Geist von einander zu trennen. „Denn eines hat das Quecksilber nicht geschafft: Meine Seele zu zerstören. Die ist gesund.“

Das Gedichtbüchlein von Marlene Winands kann unter [email protected] bestellt werden.