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Die Täter landen direkt im Kinderzimmer

Leutkirch / Lesedauer: 6 min

Ein Dokumentarfilm zeigt, wie Kinderchats zur Spielwiese für Pädophile werden . Wer im Film nun vorgeführt bekommt, mit welcher Skrupellosigkeit Männer im Netz Kontakte zu Kinde...
Veröffentlicht:09.10.2012, 23:15

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Ein Dokumentarfilm zeigt, wie Kinderchats zur Spielwiese für Pädophile werden . Wer im Film nun vorgeführt bekommt, mit welcher Skrupellosigkeit Männer im Netz Kontakte zu Kindern suchen und finden, wird eines nicht mehr los: Das Gefühl, bislang auf einer Insel der Ahnungslosen gelebt zu haben.

Bist du g’rad alleine?“ – „Ja.“ Julia antwortet ihrem neuen Gesprächspartner im Internetchat Knuddels. Tagelang haben sich Julia und der Junge im Chatroom im Altersbereich „Unter zwölf“ ausgetauscht, über Dinge, die neunjährige Mädchen so interessieren: Pferde, das Lieblingsfach in der Schule, die doofe Lehrerin, die nervigen Geschwister. Um ungestört plaudern zu können, weicht der Junge aufs Handy aus, schickt SMS, lädt dem Mädchen gar ein Guthaben auf das eigene Handy. Mit Gedichten und einem Foto mit süßem Hund schmeichelt er sich ein. Und schließlich: „Ok, Schatzi. Darf ich dich auch ganz intime Sachen fragen?“ – „Nein, so was weiß ich nicht, bin neun.“ Die sexuellen Aufforderungen, die folgen, lassen Eltern das Blut in den Adern gefrieren.

Gut, dass es Julia so nicht gibt. Es existieren nur die dicken Leitz-Ordner, die der Filmautor Manfred Karremann mit ihren Chatprotokollen angelegt hat. Er und Beate Krafft-Schöning vom Verein „Netkids“ haben Julia erfunden, sich unter diesem Namen im Kinderchat Knuddels eingeloggt – und in kürzester Zeit haben ausschließlich Männer Kontakt mit einem angeblich neunjährigen Mädchen gesucht.

Skrupellosigkeit im Netz

Es ist nicht der einzige Fall, den Karremann in seinem Dokumentarfilm „Gefährliche Freundschaften – Internetfalle für Kinder“ vorstellt. Im Auftrag des ZDF hat sich der am Bodensee lebende Journalist ein Jahr lang mit diesem Thema befasst. Wer im Film nun vorgeführt bekommt, mit welcher Skrupellosigkeit Männer im Netz Kontakte zu Kindern suchen und finden, wird eines nicht mehr los: Das Gefühl, bislang auf einer Insel der Ahnungslosen gelebt zu haben. Die Raffinesse, mit der Männer die Sicherheitsvorrichtungen in Kinderchats umgehen, übersteigt die Vorstellungskraft eines durchschnittlichen Internetnutzers.

„Frischfleisch ziehen“ nennen Pädophile die erste Kontaktaufnahme in Chats. Das Internet führt sie direkt ins Kinderzimmer. Es ist ein unauffälliger Weg, ein zunächst anonymer, der strafrechtlich gesehen kaum Risiken birgt. Anders als auf einem Spielplatz können sie im Internet ein Kind umgarnen, ohne mit lästigen Aufpassern konfrontiert zu werden. Jeder kann sich einen Namen, einen Lebenslauf, ein familiäres Umfeld zulegen wie einen Tarnmantel.

Seit 15 Jahren fahndet Rainer Richard von der Internetfahndung der Kriminalpolizei in München im Netz nach Tätern. Sein Resümee, das er im Film zieht: „Die Chance, dass ein Kind Opfer wird auf der Straße, ist meiner Ansicht nach ungleich geringer als die Chance, dass ein Täter sein Opfer über das Internet, über den Chat kennenlernt.“

Ziel ist meist ein Treffen

Nina, 13, hat mit einem Jungen, den sie aus dem Internet kennt, einen Treffpunkt ausgemacht. An einer entlegenen S-Bahn-Station. Ihr Vater wird skeptisch, wartet im Hintergrund, als die Bahn einfährt. Niemand steigt aus. Wahrscheinlich wirkte der wartende Vater abschreckend genug. Was der dann aber später von seiner Tochter erfährt, macht ihm sehr zu schaffen. Nacktfotos hatte der sogenannte Freund von Nina angefordert – und bekommen. „Wir als Eltern kennen dieses Medium Chat ja gar nicht, da sind wir überfordert, da haben wir auch gar keine Zeit dafür, wir haben drei Kinder“, erzählt der Vater mit kaum unterdrückter Wut in der Stimme.

Auch die erfundene Julia lässt sich im Chat von ihrem jugendlichen Freund zu einem Treffen überreden. Kino, Popcorn und danach ein kleiner Waldspaziergang werden per SMS vereinbart. Was der Chatpartner mit einer leibhaftigen Julia tatsächlich gemacht hätte, möchte sich der Journalist nicht ausmalen. Er übergibt den Fall der Polizei.

Dabei ist Manfred Karremann nicht fremd, wie Pädophile ticken. 2002 ist er zu Recherchezwecken ein Jahr lang in diese Szene eingetaucht, hat Treffen von sogenannten Selbsthilfegruppen für Pädophile besucht, ließ sich von potenziellen Tätern in die Tricks einweihen, mit denen Eltern getäuscht werden. Zwei Dokumentationen in der ZDF-Reihe 37 Grad, Berichte im Stern und sein Buch „Es geschieht am helllichten Tag“ sind die Ergebnisse dieser verdeckten Ermittlungsarbeit. Ebenso verschiedene Polizeieinsätze in der einschlägigen Szene.

Verbieten ist keine Lösung

Als eine Treibjagd bezeichnet Karremann, was speziell in Kinderchats stattfinde. Die Täter wissen sehr schnell, wie sie Wortfilter und Notrufknöpfe umgehen können. Und loggen sich am nächsten Tag einfach unter neuem Namen ein. Zudem finde in Kinderchats oft nur der erste Kontakt statt. Schnell würden die Kinder auf Programme wie Skype, msn oder ISQ umgeleitet.

Jugendlichen das Chatten im Internet generell zu verbieten, hält Manfred Karremann allerdings für keine Lösung. Ab einem gewissen Alter würde man seine Kinder damit der sozialen Isolation aussetzen. Es sollte jedoch zumindest ein Chat sein, in dem ein eigenes Profil angelegt werden müsse.

Einen weiteren Kontakt hatte Karremanns Julia noch, einen, auf den keine Neunjährige der Welt Wert legt. Zu Kevin, den sie ebenfalls auf Knuddels kennengelernt hat – und der ihr dann in einem anderen Programm ein Video mit Kinderpornografie geschickt hat. Bei der anschließenden Hausdurchsuchung durch die Polizei gab der Täter Karremann und seinem Team ein Interview, das die irrsinnig anmutende Sichtweise dieses Menschen auf den Punkt bringt: „Ich würde also den Kindern raten, wenn sie so etwas haben im Internet, sofort zu ihren Eltern zu gehen, und dass die halt dann gleich Ärger bekommen, die Perversen.“ Sagt ein junger Mann, gegen den wegen Kinderschändung ermittelt wird.

Mehr zum Thema

Themenabend im ZDF morgen, Donnerstag, ab 20.15 Uhr: Zunächst wird der amerikanische Spielfilm „Blindes Vertrauen“ gezeigt, in dem ein Mädchen von einer Internetbekanntschaft zu einem Treffpunkt gelockt und dort vergewaltigt wird. Um 21.50 Uhr läuft die Dokumentation „Gefährliche Freundschaften – Internetfalle für Kinder“ .

Der Stern widmet dem Thema in seiner morgigen Ausgabe einen Schwerpunkt.

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