StartseiteRegionalRegion TuttlingenSchwaben als Prototyp der Gentrifizierer

Wecke

Schwaben als Prototyp der Gentrifizierer

Berlin / Lesedauer: 3 min

Ein Blick auf die Thierse-Debatte von einem ehemaligen Tuttlinger in Berlin
Veröffentlicht:14.01.2013, 17:30

Artikel teilen:

Das Jahr fing richtig gut an für die zweitgrößte ethnische Minderheit in Berlin . Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse feuerte eine Breitseite gegen die Schwaben in der Hauptstadt, die es in sich hatte. Dass er sich darüber erregte, dass in seinem Heimatbezirk Prenzlauer Berg inzwischen von manchem Bäcker „Wecken“ statt „Schrippen“ angeboten würden, war eher noch der harmlosere Teil der Anwürfe. Tatsächlich hat Thierse begüterte Schwaben als Prototypen der Gentrifizierer ausgemacht, also jener Gruppe, die mit viel Geld die angestammten Bewohner aus ihrem Viertel vertreibt. In seinem Kiez um den Kollwitzplatz fühlt sich Thierse mittlerweile von Schwaben umzingelt und als der letzte seiner Art. Deswegen können viele Ur-Berliner den Ausraster des in Breslau geborenen Thüringers Thierse sogar verstehen, billigen wollen sie ihn nicht.

Dass Thierse eine bestimmte Gruppen Schwaben meinte, auf die selbst ihre Landsleute, die seit vielen Jahren in Berlin leben, nicht besonders gut zu sprechen sind, ist den meisten klar. Das Problem: Thierse legte tags darauf noch einmal nach, sprach den Schwaben samt und sonders den Humor ab und verallgemeinerte seine Kritik. Schwaben haben also keinen Humor? „Ob Schripple oder Berliner Weck, beides kommt vom Beck“, dichtet Tobias Baur, der seit 17 Jahren in Berlin lebt. Schon der Reim zeigt, dass der Tuttlinger den Fall Thierse gar nicht so hoch hängen will. Der Sozialwissenschaftler lebt in Kreuzberg. Der legendäre Berliner Bezirk ist eine schwäbische Hochburg in Berlin – und hier ist das genaue Gegenteil vom Prenzlauer Berg . Viele Schwaben leben in SO 36, jenem Teil der Bezirks, der heute noch für seine Straßenschlachten am 1. Mai bekannt ist. Unter Slogans wie „Schwabenblock ist Bullenschock“ oder „Bullen raus aus unserm Kreuzbergle“ verhinderten in den 80er-Jahren zahlreiche schwäbische Hausbesetzer, Spontis und Autonome, dass Immobilienspekulanten diesen Teil Kreuzbergs in einen architektonischen Albtraum verwandelten.

Gentrifizierung ist allerdings auch in Kreuzberg ein großes Thema. Vor allem der Süden des Teilbezirks ist davon stark betroffen. Rund um die Bergmannstraße und am benachbarten Chamissoplatz sind es nun wiederum viele Schwaben, die unter deutlichen Mieterhöhungen leiden oder fürchten müssen, dass das Haus, in dem sie leben, an irische oder dänische Investoren verscherbelt wird, die es in eine Hostel verwandeln oder luxuriöse Eigentumsapartments hineinsanieren.

In Kreuzberg haben Schwaben außer ein paar Frotzeleien nicht viel zu fürchten. Und so könnte man hier auch über den merkwürdigen Zausel vom Prenzelberg lächeln. Aber am Prenzlauer Berg finden sich an Hauswänden eben auch Graffitis mit Inhalten von: „Schwaben raus“ bis hin zu „Tötet Schwaben“. Als vor zwei Jahren ein arbeitsloser Lackierer mehrere hundert Autos in Brand steckte, wurde bereits über Schwabenhass als Motiv spekuliert. In Straßen- und U-Bahnen ist es deswegen schon zu körperlichen Übergriffen gekommen. Im Sommer 2011 wurde ein Zeitungsausträger verurteilt. Er hatte am Prenzlauerberg elf Mal in Treppenhäusern Kinderwagen angezündet. Sein Motiv: Schwabenhass.