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Gefangenenlager

Der Weg zurück in die Heimat der Vorfahren

Weingarten - / Lesedauer: 5 min

Russlanddeutsche haben in Weingarten mit Problemen zu kämpfen – Eine Familie erzählt von ihrem Schicksal
Veröffentlicht:06.12.2011, 11:20

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Sie haben es nicht gerade einfach in Weingarten. „Des sind dia, wo mer dohanna eher it so hon will“, heißt es schon mal, wenn man mit den Leuten spricht. Schnell schweift dann der Blick in Richtung Lazarettstraße, wo viele Russlanddeutsche in Übergangswohnheimen leben. Es seien Kriminelle, die man auch noch bezahlen müsste.

Wahr ist: Tatsächlich gibt es bei der russlanddeutschen Minderheit in Weingarten Probleme und Biografien, die im Gefängnis landen. Das weiß auch Michael C. Hermann vom Kultusministerium in Stuttgart, der zuvor an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten beschäftigt war. Seit fast 20 Jahren arbeitet er auch ehrenamtlich in der Justizvollzugsanstalt in Hinzistobel und betreut Gefangene. „Es gab Phasen, in denen 30 bis 40 Prozent der Strafgefangenen einen russlanddeutschen Hintergrund hatten“, berichtet er. Dafür gibt es Gründe.

Auch die russlanddeutsche Landsmannschaft in Weingarten weiß genau um die Probleme. „Viele der jungen Russlanddeutschen schwanken zwischen zwei Welten“, sagt Ida Jobe , die Vorsitzende der Landsmannschaft. Nicht selten haben insbesondere junge Russlanddeutsche Identifikations- und Integrationsschwierigkeiten. „Die älteren Generationen leben sich viel schneller ein als die jüngeren.“ Das liegt vor allem an der Sprache, die Zugang zu Bildung und Gesellschaft ist. Ältere Russlanddeutsche sprechen noch Deutsch, doch durch die Politik von Josef Stalin war Deutsch nicht gern gehört, und so langsam verlor sich das Deutsche mehr und mehr in Russland. So kommt es, dass viele junge Russlanddeutsche kaum noch Deutsch sprechen. Ohne Sprache, schlechte Bildungschancen, ohne Bildung keine Arbeit. Die Gefahr, in den Drogensumpf zu geraten und kriminell zu werden, ist hoch. „Trotzdem: All die 250 Jahre, die die Deutschen in Russland sind, haben sie immer Deutschland als die wahre Heimat angesehen“, sagt Ida Jobe.

In der Wolga-Region begann alles

An einem eisigen verschneiten Tag in Sibirien im November 2009 beginnt die Deutschlandreise von Anna Fomenko und ihrer Familie. Sie kommen aus der Provinzhauptstadt Barnaul, 300 Kilometer südlich von Novosibirsk. Heute lebt Anna in Weingarten und besucht einen Deutschkurs, obwohl sie mit ihrer Mutter immer wieder Deutsch sprach. „Aber das Schwäbische macht vieles schwer.“ Außer 30 Kilo Gepäck haben sie alles zurückgelassen. „Seit ich denken kann, erzählt meine Familie von Deutschland. Dass es dort besser ist. Dass wir dann zu Hause sind“, erzählt sie. „Als wir dann im Flugzeug nach Deutschland saßen, war es uns nicht wohl. Wie uns dann unsere Verwandtschaft aber am Flughafen empfangen hat, war alles wieder gut.“

Vor Jahrhunderten wanderten Annas Vorfahren aus Süddeutschland nach Russland aus und wollten dort schnell zu Wohlstand kommen. Damals sind sie in der Wolga-Region geblieben, weil sie sich wohlfühlten. Doch während des Zweiten Weltkriegs begann Stalin, die deutsch besiedelten Gebieten zu zerschlagen und sie in Sibirien und Kasachstan anzusiedeln. „Mein Großvater musste in ein Gefangenenlager, weil er Deutscher war. Auch meine Oma musste in ein Lager und arbeiten“, erzählt sie.

Der Wunsch nach Wohlstand

Seit diesem Moment war für die Familie klar: Sie konnte nicht mehr bleiben. Ihre Muttersprache durften sie nicht mehr sprechen und in der Schule wurden die Kinder beschimpft. „Bei mir war das nicht mehr so“, sagt Anna Fomenko, schließlich sei der Krieg lange her. Nach und nach seien ihre Verwandten nach der Wende dann ausgewandert – in die Heimat ihrer Vorfahren. Zurück blieb nur noch ihre Familie im sibirischen Barnaul. „Klar wollten wir nachkommen“, sagt sie. Schließlich sind die Chancen auf Wohlstand für die einfache Bevölkerung gesunken. „Es gibt keine Mittelschicht. Die Neureichen kaufen alles auf und werden reicher, und die Armen werden immer ärmer“, sagt Annas Vater Gennadij Pawlowskij. Ein Grund, warum viele nach Deutschland gehen.

„Jeder 40. Deutsche müsste ein Russlanddeutscher sein“, schätzt Michael C. Hermann, „aber in Weingarten liegt die Quote sicherlich höher.“ Wie viel es wirklich sind, kann jedoch niemand sagen. Denn Russlanddeutsche sind nach deutschem Staatsbürgerschaftsrecht Deutsche und werden nicht separat erfasst. Nur die Landsmannschaft kann einen Anhaltspunkt geben. „Bei uns sind 189 Familien organisiert, das sind aber längst nicht alle, die hier leben“, berichtet die Vorsitzende Jobe.

Richtige Probleme hatte Anna Fomenko in Weingarten noch nicht. Ihr großer Wunsch: „Ich will mehr mit Deutschen zu tun haben, aber das ist schwierig, weil die meisten meiner Freunde aus Russland kommen und die Sprache oft eine Barriere ist.“ Dennoch sind sie und ihre Familie auf einem guten Weg. Die studierte Juristin Anna will in Deutschland Soziales studieren. Dass sie es wirklich schaffen wollen, haben Anna und ihr Mann schon bewiesen. Sie unterrichtet an der Weingartener Volkshochschule Tanzen, und ihr Mann arbeitet bei Rafi in Berg. Ob sie wieder zurückwill? „Nein. Hier geht’s mir besser. Aber die sibirische Kälte vermisse ich.

INFO: Tagung befasst sich mit dem Thema

Mit der Situation russlanddeutscher Jugendlicher in Deutschland und in der Russischen Föderation beschäftigt sich eine internationale Tagung am 9. und 10. Dezember in Weingarten. Die Konferenz „Hier die Russen – dort die Deutschen“ findet im Rahmen des „Deutsch-russischen Jahres der Bildung und Wissenschaft“ statt und wird vom deutschen und russischen Bildungsministerium unterstützt. Die Tagung setzt sich mit den Integrationsschwierigkeiten und den Unterstützungsmöglichkeiten in Schule, Jugendhilfe, Strafrechtspflege und Jugendarbeit auseinander. An einer Abschlussdiskussion nehmen unter anderem die baden-württembergische Integrationsministerin Bilkay Öney und der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge teil. Weitere Infos zum Programm und Anmeldung unter Telefon 0711/1640702 oder im Internet unter www.akademie-rs.de .