StartseiteRegionalRegion LindauLindauWer im Schicksal mehr sieht als Zufall

Schicksalsglauben

Wer im Schicksal mehr sieht als Zufall

Lindau / Lesedauer: 4 min

Alice Holzhey-Kunz referiert über Polarität von Schicksalsglaube und Machbarkeitswahn
Veröffentlicht:18.04.2014, 18:25

Artikel teilen:

„Der Sklave wähle es, Sklave zu sein. Der Mensch wähle seine Geburt.“ Alice Holzhey-Kunz zitiert Sätze des Philosophen Jean-Paul Sartre um zu zeigen, dass der Mensch Position beziehen kann zu dem, was ihm wiederfährt. Diese Freiheit habe Sartre auch in seinem berühmten Ausspruch „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt“ gemeint. „Zu allem was man ist und selber tut und auch zu allem, was man nicht tut oder nicht ist, nochmal Stellung zu nehmen, bleibt unsere Freiheit“, sagte Holzhey-Kunz, Psychoanalytikerin aus Zürich, in ihrem Vortrag im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen. Auch Schicksalsglaube und Machbarkeitswahn seien zwei verschiedene Arten, zu Geschehnissen Stellung zu nehmen. Zwei Grundhaltungen, die sich nach Holzhey-Kunz gegenseitig ausschließen.

„Schicksalsgläubig ist, wer im Schicksal mehr sieht als Zufall“, sagte Holzhey-Kunz. „Diese Menschen glauben, dass, was sie trifft, auch für sie bestimmt ist.“ Für einen gläubigen Christen sei das Schicksal etwa personifiziert in Gott. Auch in ihren eigenen Entscheidungen sähen sich Schicksalsgläubige geleitet von einem Schicksal und erlebten diese daher weniger belastend.

Dieser Haltung entgegengesetzt stehe der Machbarkeitswahn, die moderne Alternative zum Schicksalsglauben. Seit der Aufklärung erscheine der Glaube, das eigene Leben sei in ein transzendentes Sinnganzes eingebettet, als kindlich naiv. Der Mensch müsse den Sinn nun selbst finden. „Der Sinn reicht dann nur noch so weit wie unser sinnstiftendes Machen“, so Holzhey-Kunz. Das Machen diene dazu, über den Zufall zu triumphieren.

Am Schicksalsglaube und am Machbarkeitswahn könne man gleichermaßen leiden. So äußert sich ein Hadern mit dem Schicksal etwas im Nicht-Akzeptieren-Können des eigenen Körpers. Auch Hypochondrie drücke ein Leiden am Schicksal des krankheitsanfälligen und sterblichen Körpers des Menschen aus. Wer dagegen am Machbarkeitsglauben leidet, sucht die Fremdbestimmung. Diese Menschen können nicht akzeptieren, dass ihr Handeln nicht abzuschätzende Folgen hat.

Holzhey-Kunz zitierte an dieser Stelle Karl Valentin: „Mögen habe ich schon wollen, aber dürfen habe ich mich nicht getraut.“ Das eigene aktive Handeln erscheine solchen Menschen anmaßend, als schuldhafter Akt. Seelisches Leiden sei damit häufig in irgendeiner Form Leiden am Schicksalsglauben oder an der Machbarkeit.

Wie wirken sich die beiden konträren Konzepte von Schicksalsglauben und Glauben an die Machbarkeit auf die psychotherapeutische Praxis aus? Diese Frage stellt sich Holzhey-Kunz anhand der zugehörigen Konzepte des Selbst. Eine Gruppe vertrete das Konzept der Sinnfindung und Selbstverwirklichung. Hier finde sich ein schicksalsgläubiges Konzept des Selbst, es werde als innere Gegebenheit betrachtet. „Werde wer du bist. Finde dein wahres Ich.“ Dies seien die zugehörigen Parolen. Der Patient solle hier ein wahres Selbst finden, das schon in ihm bereitliege. „Dieses Konzept ist verknüpft mit dem Versprechen, es lasse sich in einem selbst jener ersehnte Halt finden, von dem man sich in der heutigen pluralistischen Gesellschaft leiten lassen kann“, so die Referentin.

Auch Sinn kann vorgegeben sein

Die Leitsätze der entgegengesetzten psychotherapeutischen Richtung, die sich auf den Glaube an die Machbarkeit stützt, lauten dagegen: „Erfinde dich neu. Kreiere ein besseres Selbst.“ Hier werde die Vorstellung vertreten, dass das eigene Selbst eine Konstruktion sei und erst aufgrund eigener und fremder Erzählungen über dieses Selbst entstehe.

Die gleiche Aufspaltung wie beim Selbstbegriff gebe es auch bei der Vorstellung vom Sinn, so Holzhey-Kunz. Der Sinn des Lebens könne einerseits als etwas Vorgegebenes gesehen werden, und andererseits als etwas, das der Mensch dem Leben selbst geben muss. „Sinn ist dann nicht mehr gegeben, sondern aufgegeben.“ Mit der Pflicht zur eigenen Sinngebung einher gehe aber oft die Angst, einem falschen Sinn hinterherzurennen. Die Sehnsucht nach einem nicht selbst gestifteten Sinn sei groß. Einen Ansatz, der einen solchen Sinn bieten kann, findet Holzhey-Kunz bei Carl Gustav Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie: Er sah die Seele als ein autonom handelndes Subjekt, das Lösungen vorbereitet – „Die Seele weiß was für mich gut ist, ich muss ihr nur folgen“, so die Essenz seiner nach Holzhey-Kunz auch heute noch attraktiven Theorie, die einen Halt im Menschen selbst verortet.