StartseiteRegionalBayern"Zwölf Stämme": Von freundlichen Sonderlingen spricht niemand mehr

Klosterzimmer

"Zwölf Stämme": Von freundlichen Sonderlingen spricht niemand mehr

Nördlingen / Lesedauer: 5 min

Für ihre Nachbarn waren die Mitglieder der Sekte „Zwölf Stämme“ lange harmlose Exoten – Nach TV-Berichten kippt die Stimmung
Veröffentlicht:10.09.2013, 20:31

Von:
Artikel teilen:

Ein Mädchen, drei oder vier Jahre alt, schreit vor Schmerzen. Doch die Frau in der schwarzen Pluderhose schlägt weiter zu. Immer wieder auf das nackte Gesäß des Mädchens, minutenlang. Die Fernsehbilder, die ein verdeckter RTL-Reporter in einem Keller der Glaubensgemeinschaft „Zwölf Stämme“ auf dem Gut Klosterzimmern bei Nördlingen (Landkreis Donau-Ries) gedreht hat, gehen Kriemhilde Krause nicht aus dem Kopf.

„Sie hatten sich eine so tolle Maske gegeben, als nette Nachbarn, als liebevolle Eltern“, sagt die Nördlingerin. Sie wohnt in der Nähe des Cafés, das die Sekte jahrelang in der Kreisstadt betrieben hat. Die nun gezeigten Bilder von den grausamen, systematischen und andauernden Kindesmisshandlungen haben sie kalt erwischt: „Ich kann nicht davon sprechen, ohne zu zittern.“

Hilfsbereit, freundlich, fromm: So erschienen die Mitglieder der „Zwölf Stämme“ Heinz Hubel . Mit der Ortsgruppe Bopfingen des Schwäbischen Albvereins hat er das Gut Klosterzimmern zweimal besichtigt. „Sie bewirteten uns unheimlich großzügig, erklärten uns das Leben auf dem landwirtschaftlichen Anwesen und beantworteten bereitwillig Fragen“, sagt er. Und dann das. „Das müssen richtige Schauspieler sein.“ Anders kann er es sich nicht erklären.

Die bärtigen Männer mit den langen Haaren, die seit dem Jahr 2000 mit ihren Frauen und Kindern auf dem Gut im Nördlinger Ries wohnen, galten den meisten als kauzige, harmlose Sonderlinge. Sie waren keine Geheimniskrämer, schotteten sich nicht ab. Im Hofladen und auf dem Nördlinger Wochenmarkt verkauften sie Ökogemüse und Brot. Bei Sommer- und Erntefesten in Klosterzimmern staunten Besucher über Musik- und Theateraufführungen von Erwachsenen und Kindern.

„Wie eine schöne Idylle“ empfand es der katholische Nördlinger Dekan Paul Erber, als er das Gehöft einmal besuchte. Ihr Café „Prinz und Bettler“ in Nördlingen gaben die „Zwölf Stämme“ wieder auf. Die Gäste kamen zahlreich, um gut und günstig zu speisen – aber nicht, um mit den Gemeinschaftsmitgliedern über ihren Glauben zu sprechen: Zweck verfehlt. „Eines der Mitglieder war bei uns in der Feuerwehr“, erzählt Karlheinz Stippler, Bürgermeister der Gemeinde Deiningen, in der Klosterzimmern liegt. „Freundlich und eloquent“ seien sie gewesen, hätten Steuern gezahlt und Behördengänge korrekt erledigt. Nun fragt er sich: War die Freundlichkeit Tarnung?

Als sich sieben Väter der Gemeinschaft im Jahr 2002 verhaften ließen, weil sie ihre Kinder nicht in die staatliche Schule geben wollten, ernteten sie neben Kritik auch Verständnis bei Nachbarn. Die „Zwölf Stämme“ erhielten schließlich die staatliche Erlaubnis, Kinder in der Hofschule selbst zu unterrichten und dabei Sexualkunde und Evolutionstheorie auszusparen. Das Bayerische Kultusministerium schloss die Schule erst im Juli 2013.

Anhörung vor Familiengerichten

2012 prangerten Sektenaussteiger Prügelstrafen an. Das Jugendamt fand keine Beweise, die Wogen schienen sich zu glätten. „Auch ich hatte anfangs Zweifel, denn es werden gerne Menschen vorschnell verurteilt“, räumt Nachbarin Kriemhilde Krause ein. Selbst das Großaufgebot der Polizei , das am vergangenen Donnerstag in Klosterzimmern einrückte und auf gerichtliche Anordnung alle 40 Kinder abholte, erntete Kritik. Darf man Kinder einfach den Eltern wegnehmen?

Nun ist die Stimmung gekippt. Heimlich gedrehte Bilder der Kindesmisshandlungen, die am Montagabend im Fernsehen liefen, haben für Entsetzen, aber auch handfeste Reaktionen gesorgt. Gegen ein Uhr fuhren plötzlich hupende Autos in Klosterzimmern ein, drehten Runden. Reifen quietschten. Die Polizei beendete den Spuk: „Wir werden keine Übergriffe dulden und jede Straftat konsequent verfolgen“, musste der Nördlinger Polizeisprecher Raimund Pauli drohen.

Die Anhörung der Eltern vor den Familiengerichten Ansbach und Nördlingen beginnt diese Woche. Im Raum steht „erhebliche und dauerhafte Kindesmisshandlung“, es droht permanenter Sorgerechtsentzug. „Die Mitglieder der Gemeinschaft pflegen keinen Missbrauch, vielmehr lieben sie ihre Kinder von ganzem Herzen“, verteidigen sich die „Zwölf Stämme“ auf ihrer Homepage. Das glaubt unter Nördlinger Passanten keiner mehr: „Sie sollen ihre Kinder nicht wieder bekommen“, sagt Janine Linse. „Warum haben die Behörden nicht früher eingegriffen?“, fragt sich Christian Turba.

Kommen die Bilder wirklich überraschend? „Man hat immer gewusst, dass sie ihre Kinder anders erziehen“, sagt Deiningens evangelischer Pfarrer Reinhard Caesperlein. Er feiert in der früheren Klosterkirche einmal im Monat Gottesdienst – dieses Recht musste er sich erst gerichtlich gegen die „Zwölf Stämme“ erstreiten. „Die sehen mich als Feind“, sagt Caesperlein, der selbst nie mit den Sektenmitgliedern Kontakt hatte. „Manche haben gesagt, dort würden altväterlich Ohrfeigen verteilt“, sagt der Pfarrer.

Kein Stress, alles Bio?

Ob an den Prügelvorwürfen etwas dran sei, fragte eine Anwohnerin die Gemeinschaftsoberen bei einer Besichtigung einmal. „Die Antwort war, dass die Kinder, wenn nötig, gezüchtigt würden – so wie es früher eben auf dem Land war“, erinnert sie sich heute. Warum haben viele so lange am Bild von den harmlosen Exoten festgehalten? „Sie sahen immer so glücklich aus“, sagt Renate Goss aus Nördlingen. Kein Stress, kein Fernsehen, alles Bio. Im Schaufenster des geschlossenen Cafés priesen die „Zwölf Stämme“ noch am Dienstag selbst gefertigte Lederschuhe an. Auf einem Blatt stand: „Wir wohnen nun schon seit einiger Zeit in Ihrer unmittelbaren Nähe, liebe Rieser, und rufen Sie auf, Ihr Urteil zu den Vorwürfen abzugeben.“

Das Fenster hat jemand mit Ketchup verschmiert. Davor steht eine Frau um die 30 in schwarzer Pluderhose. Ja, sie sei eine Angehörige der „Zwölf Stämme“, aber sie möchte keine Auskunft geben. „Ich traue der Presse nicht“, murmelt sie, geht ein paar Schritte weg und bleibt, starr und ausdruckslos vor sich hinblickend, im Regen stehen.