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Bergpfad

Die etwas andere Hütte

Bayern / Lesedauer: 7 min

Die etwas andere Hütte
Veröffentlicht:27.07.2017, 19:18

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„Super, gefällt mir optisch gut“, meint Stefan Klotz, ein Urlauber aus dem hessischen Wetzlar. Er ist mit seinen beiden Kindern frühmorgens auf einem Bergpfad hinter Oberstdorf talwärts unterwegs. Das Lob gilt ihrem weiter oben gelegenen Nachtquartier, dem neuen Waltenberger Haus, einer Alpenvereinshütte in den Allgäuer Alpen . Gleich nach ihm kommen zwei Frauen aus der Frankfurter Gegend den schmalen Steig herab. Dagmar Emmerich heißt eine von ihnen. Angesprochen aufs Waltenberger Haus, antwortet sie: „Es lohnt sich und ist ganz anders als sonstige Hütten.“

So viel entgegengenommene Hochschätzung verstärkt die persönliche Neugierde auf das Haus. Das alpenweit jüngste abgeschlossene Hüttenprojekt war nämlich durchaus umstritten. Die Diskussion berührte alpine Grundsatzfragen. Eine davon lautet: Wie viel Modernität verträgt eine Schutzhütte in der traditionsverhafteten Bergwelt? Dieses Thema erfährt üblicherweise eine Ergänzung durch die Frage, ob solche Projekte nicht zu viel Komfort für den Gast mit sich bringen würden? Um letzteren Einwurf zu verstehen, hilft ein Blick auf die Hartleibigsten unter den Bergkameraden. In diesen Kreisen heißt es auch heute noch: „Der Kulturbeutel ist der Tod des Alpinismus.“ Anders ausgedrückt: Körperpflege ist niedrig rangig, wenn man den schroffen Gipfeln zustrebt.

Vorarlberger Holzarchitektur

Für das Schaffen eines eigenen Bildes sind aber noch viele Höhenmeter aufzusteigen. Der Weg führt durchs Bacherloch, einer wildromantischen Abzweigung des Stillachtals. Er geht an Felsabstürzen vorbei. Der Schweiß rinnt, das Hemd klebt am Körper. Gut zwei Stunden Marschzeit vom Tal aus – und noch keine Hütte in Sicht. Aber gemach. Kurz darauf ist es so weit. Eine Blickwendung nach links oben. Dort steht das Waltenberger Haus – beziehungsweise thront auf einem Vorsprung, hinter dem die Felsen zur Mädelegabel und Hochfrottspitze ansteigen. Der Bau ist leicht gebogen, die noch unverbleichten Holzschindeln der Außenwände leuchten hell in der Sonne. Das Ganze wirkt, als beruhe die Planung auf Gedanken der inzwischen überregional angesagten neuen Vorarlberger Holzarchitektur: klare, schnörkellose Strukturen, Funktionalität. Auch das ansonsten von Nostalgikern gerne gesehene Giebeldach fehlt. Es hat nur eine Neigung zur Talseite hin.

Eingeweiht wurde die neue Hütte nach zweijährigen, 3,4 Millionen Euro teuren Arbeiten im Juni. Wobei der Begriff „neu“ mit Blick auf Behörden, Ökoverbände und Alpenverein politisch unkorrekt ist. Ersatzbau müsste es korrekterweise heißen. Der Grund: Abgesehen von einigen geschäftshungrigen Touristikunternehmern will eigentlich niemand mehr eine weitere Erschließung der Alpen. Deshalb kann die neue Hütte per definitionem kein Neubau sein, obwohl alles neu ist. Vom Vorgängergebäude existieren nur noch Bilder. Es wurde vor zwei Jahren abgebrochen, stand aber am selben Ort – ein Steinhaus, dessen Anfänge ins Jahr 1884 zurückgehen. Seinerzeit war ein erster, 1875 gewählter benachbarter Standort wegen seiner schlechten Lage aufgegeben worden.

Eigentümer ist die Sektion Allgäu-Immenstadt im Deutschen Alpenverein. 2010 tauchte für sie ein einschneidendes Problem auf: Der damalige Pächter verstarb. Dadurch erlosch der Bestandsschutz für die rustikale Alt-Hütte. Das heißt, die Behörden akzeptierten die herrschenden Zustände nicht mehr: unzeitgemäßen Brandschutz ebenso wenig wie Mängel bei der Bewirtungshygiene oder der Unterbringung des Hüttenpersonals. „Die Verwirklichung aller Auflagen wäre im alten Gebäude nur schwer umzusetzen gewesen“, berichtet Matthias Hill , Leiter der Geschäftsstelle der Immenstadter Alpenvereinssektion. Später wurde zudem klar, dass im Gebälk der gefürchtete Hausschwamm saß, ein holzzerstörender Pilz. Was tun? Erhalt oder Abriss? „Wir haben uns die Entscheidung nicht leicht gemacht“, sagt Hill. So seien auch Ideen in Richtung einer Hüttenerweiterung mit Erhalt der Altsubstanz entwickelt worden.

„Im Vorstand“, erinnert sich Hill, „war man sich aber schnell einig, dass nur ein Abriss und ein Ersatzbau eine realistische Option sind.“ Zu diesem Zeitpunkt schlägt bei solchen Projekten gerne die Stunde der Traditionalisten. So war es auch in diesem Fall. Ein Sektionsmitglied erklärte, er habe vor einem Fenster der alten Hütte seine Frau kennengelernt. Einen Abriss könne er deshalb nicht mittragen. Weiterer Widerstand organisierte sich. Der Denkmalschutz wurde ins Spiel gebracht. Immerhin sei das Waltenberger Haus eine der ältesten Alpenvereinshütten auf deutschem Boden. Die später umgesetzten Baupläne erfuhren eine Beschimpfung wie „Holzschuppen“ oder „Seilbahnstation“.

Proteste gegen Abriss

„Es handelte sich nur um eine kleine Minderheit der Mitglieder“, meint Hill. Aber sie waren da – und sie waren laut. Beim Deutschen Alpenverein in München kennt man dies gut. Seine mehr als 350 Sektionen betreiben gegenwärtig 323 hauptsächlich in den Ostalpen gelegene größere und kleinere Hütten. „Sobald ein Abriss im Raum steht, erleben wir den großen Aufschrei“, sagt Robert Kolbitsch vom Ressort Hütten und Wege. Er kommt auf die Höllentalangerhütte im Zugspitzgebiet zu sprechen. Dort gab es etwa zur gleichen Zeit wie beim Waltenberger Haus die selben Probleme. Auch in diesem Fall wurde ein Ersatzbau als nötig erachtet. Worauf der Streit losbrach. Mit Blick auf die Pläne schimpften Traditionalisten über den „Hüttenbunker“, der noch nicht einmal ein Giebel-, sondern aus Lawinenschutz-gründen nur ein Pultdach erhalten sollte. Selbst der Bayerische Landtag in München musste sich mit der Höllentalangerhütte beschäftigen. Die Abrissgegner hatten eine Petition eingereicht. Sie blieb erfolglos. 2015 konnte die neue Hütte eingeweiht werden. Wie zu hören ist, gilt sie inzwischen als allgemein beliebt.

Hüttenexperte Kolbitsch meint dazu, es sei doch grundsätzlich fragwürdig, wenn man heute so bauen wolle wie vor über hundert Jahren. Jede Zeit habe ihre eigenen Vorstellungen. Dies beträfe letztlich auch den Standard in den Hütten – den nächsten Aufreger. So beobachteten Altertumsliebhaber argwöhnisch die Entwicklung des Schlafplatzangebots in der neuen Höllentalangerhütte. Das Matratzenlager wurde nämlich zugunsten von Mehrbettzimmern erheblich verkleinert. Mancher erkannte bereits darin ein ungebührliches Streben nach alpinem Luxus. Die Einfachheit des Massenlagers erfuhr hingegen plötzlich großes Lob – als seien schnarchende Nachbarn, stinkende Socken und der allgemeine Schweißgeruch ein adelndes Umfeld. „Man kann davon halten, was man will. Aber die Leute fragen halt zuerst nach Zimmern“, weiß Kolbitsch. Der Trend gehe weg vom Matratzenlager. „Sie sind ein Auslaufmodell“, meint Georg Unterberger, Hüttenspezialist vom Österreichischen Alpenverein in Innsbruck. Die Menschen wollten auch auf den Schutzhütten ein Mindestmaß an Privatsphäre. Da müsste man ein Stück weit auch mit der Zeit gehen. Auf Unterbergers Unverständnis stößt hingegen jene Klientel, die „Dusche und Warmwasser auf jedem Zimmer will und glaubt, eine Schutzhütte sei eine Art Berghotel“. Diese Leute, sagt er, könnten sich gar nicht vorstellen, wie schwer zum einen die Energieversorgung auf den Hütten sei. Und Wasser fließe gerade weit oben in den Bergen eher spärlich.

Dem Zeitgeist gefolgt

Im neuen Waltenberger Haus ist die Angelegenheit mit der Dusche übrigens traditionell geregelt. Es gibt eine für Männer und eine für Frauen. Ein Münzautomat spendet für zwei Minuten warmes Wasser. Die Energie dafür kommt von einer Solaranlage. Bei den 72 Schlafplätzen der Hütte ist die Sektion Allgäu-Immenstadt dem Zeitgeist gefolgt: mehr Zimmer, wesentlich kleinere Massenlager. „Das Waltenberger Haus soll aber schon noch eine Hütte bleiben“, betont Hüttenwirt Markus Karlinger. „Aperol oder Cappuccino werde ich nicht anbieten.“ Bleibt die Frage, ob dies überhaupt ein Bergkamerad will. Jene fidele fünfköpfige Männerrunde, die am Mittag in der hellen, weiträumigen Gaststube eingetroffen ist, sicher nicht. Karlinger bringt ihnen Allgäuer Bier. Anstoßen. „Prost auf die neue Hütte“, heißt es.

Die aus Zusmarshausen bei Augsburg angereiste Truppe stutzt nur, als der Hüttenwirt erklärt, der Gerstensaft käme per Hubschrauber. Dies scheint ein Wermutstropfen bei aller Neubau-Freude zu sein: Das Waltenberger Haus hatte nie eine Lastenseilbahn. Eine solch fehlende Berg-Tal-Verbindung ist bei Schutzhütten inzwischen eine große Ausnahme. Mit Alternativen sieht es schlecht aus. Mit der Kraxe auf dem Rücken will keiner mehr laufen. Ein Gütertransport per Muli wäre nach allgemeinen Berechnungen von Alpenvereinsexperten wohl ebenso teuer wie die Helikopterflüge. „Wir hätten dies schon gerne anders, ohne die Flüge“, sagt dann auch Karlinger. Vielleicht gebe es doch mal die Chance auf den Bau einer Lastenseilbahn. Bei einer benachbarten, privat bewirtschafteten Berghütte habe dies jüngst auch geklappt.