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Mord

Weil Mord nicht verjährt

Baden-Württemberg / Lesedauer: 8 min

Jens Rommel aus Oberschwaben leitet die Ludwigsburger Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen
Veröffentlicht:25.08.2016, 17:56

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Es gibt kaum einen Tag, an dem Jens Rommel nicht daran denkt, wie es wäre, die Zeit zurückzudrehen. In die 1980er-Jahre, als noch sehr viele jener Menschen lebten, die am größten Menschheitsverbrechen beteiligt waren: der organisierten Ermordung von Millionen Menschen, die allermeisten von ihnen Juden, durch das NS-System.

Jahrelang hat der heute 42-Jährige am Ravensburger Landgericht „Mord und Totschlag gemacht“, wie er es beschreibt. Zuvor war er in Biberach und Riedlingen, arbeitete für den Generalbundesanwalt, war Referent des Justizministers und bei der EU in Brüssel. Dann kam im Oktober 2015 die Berufung nach Ludwigsburg zum Leiter der „Zentralen Stelle der Landesverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“. Das ist eine Herausforderung für jeden Juristen. Gleichzeitig ist es eine Chance für die bundesdeutsche Justiz, denn Rommel gehört zu einer Generation von Juristen, die gewillt ist, deutsche Vergangenheit wie auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorbehaltlos aufzuarbeiten. Schon sein Vorgänger in Ludwigsburg, der inzwischen pensionierte Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, hatte 15 Jahre lang in akribischer Kleinarbeit Vorbildliches geleistet.

Wie die Justiz versagt hat

Es ging mal anders zu in Ludwigsburg. Im Jahr 1958, 13 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, wurde diese Dienststelle gegründet. Sie sollte ein Feigenblatt sein, nach außen dokumentieren, dass man in Deutschland sehr wohl die braune Vergangenheit aufarbeiten wollte. Aber das Unrecht an den Opfern ging nach 1945 weiter. Denn der erste Leiter der Zentralstelle, Erwin Schüle, ein ehemaliger SA-Mann, war in der Sowjetunion wegen mehrfachen Mordes zum Tode verurteilt worden. Seine Berufung dokumentierte dem Ausland und den überlebenden Opfern vor allem eines: Die westdeutsche Justiz, die Verwaltung, ja, die Politik und die Wirtschaft waren durchsetzt mit Tätern, die sich als Männer am Schreibtisch und in Parteiorganisationen der NSDAP schuldig gemacht hatten. Mehr als die Hälfte aller deutschen Justizbeamten nach 1945 waren zuvor in NS-Organisationen gewesen. Die meisten dieser Menschen hatten kein Interesse daran, die Geschichte oder gar die eigenen Verstrickungen aufzuarbeiten. Bequemer war es, Hitler, Göring, Himmler, Goebbels oder Eichmann als Schuldige zu benennen.

Hunderttausende Biografien

Rommel, ein kompakter Mann mit Brille und Unterlippenbart, aufgewachsen in Grünkraut bei Ravensburg, nennt das „beklemmend“. Nicht jeden Tag sieht er in den Akten die Schwarz-Weiß-Fotos von Massenerschießungen und anderen Gräueltaten. Aber er und seine 18Mitarbeiter wüssten, dass hinter vielen der Fälle, die von der Zentralstelle recherchiert wurden, Zehntausende, ja Hunderttausende von Biografien stünden.

Jene, die in den 1970er- und 1980er-Jahren, als viele der Täter noch lebten, versuchten, die Männer und Frauen zur Anklage zu bringen, die sich schuldig gemacht hatten, mussten schnell erkennen, dass die NS-Leute in der bundesdeutschen Justiz vorgesorgt hatten. Seit 1960 können den Staatsanwaltschaften keine Fälle mehr vorgelegt werden, bei denen die Anklage auf Totschlag lauten würde. Der war seit 1960, 15Jahre nach dem Krieg, verjährt. Aufgabe der Justiz wäre es nun gewesen, einem Beschuldigten einen Mord nachzuweisen, etwa aus Heimtücke oder niederen Beweggründen. Gelang das nicht, kamen jene, die möglicherweise einen Totschlag begangen hatten, straffrei davon. Nur Mord verjährt nicht.

Die von Schlamperei und Sabotage geprägte Aufarbeitung der NS-Verbrechen vor bundesdeutschen Gerichten muss vielen der Opfer wie eine weitere Verhöhnung vorgekommen sein. So wie dem legendären Staatsanwalt Fritz Bauer, selber Jude, der die Frankfurter Auschwitz-Prozesse anstrengte und miterleben musste, wie eine gedankenlose oder schikanöse Justizverwaltung Opferzeugen und angeklagte Täter in ein und demselben Hotel unterbrachte. In Ludwigsburg, so berichtet Rommel, hätten Mitarbeiter der Zentralstelle in den 1950er- und 1960er-Jahren keine Wohnung bekommen. Viele der Justizbeamten müssen es als Degradierung empfunden haben, in Ludwigsburg zu arbeiten. Taxifahrer, die selbst bei der Wehrmacht oder der SS gewesen waren, hätten sich geweigert, Gäste in die Schorndorfer Straße zu chauffieren, weil sie die Zentralstelle als Schandmal empfunden hätten. Wohlgemerkt, nicht die NS-Verbrechen galten als solches, sondern der Versuch, diese juristisch aufzuarbeiten.

Rommel gehört zu einer Generation von Juristen, die ohne die Last alter Seilschaften oder der persönlichen Verstrickung ermitteln kann, akribisch und häufig auch vergeblich. Rommel registriert seit 2001, als das Völkerstrafrecht in Deutschland eingeführt wurde, ein Umdenken in der Justiz. Jetzt können auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden, die in weit entfernten Weltgegenden stattfanden, und es gibt ein Internationales Strafgericht in Den Haag.

Der Strafverfolger lacht viel und gern, ohne dass dadurch die Schwere seines Themas in Abrede gestellt würde. Bereichernd sei es, mit Historikern und Politologen zusammenarbeiten zu können, die sich eben nicht mit einem juristischen Tatbestand abfinden wollten, sondern die fragten, warum etwas so ist, wie es ist, und wie man es ändern könne.

So, wie es immer weniger Opfer gibt, Überlebende der Konzentrationslager oder der Gestapo-Haft, so sind die meisten Wächter, Polizisten, Gestapo-Mitarbeiter und Schreibtischtäter verstorben. Die Mehrheit der Täter hat unter ihrem Klarnamen mit einer Beamtenpension oder einer Rente den Lebensabend genossen. Wenn Rommel und seine recherchierenden Staatsanwälte jetzt bei den Vorermittlungen noch in akribischer Kleinarbeit Verdächtige ausfindig machen, sind das nicht die ganz Großen.

Ein Förderverein hilft

„Mit das Bedrückendste an meiner Arbeit ist, dass wir einen ukrainischen Hilfsarbeiter wie John Demjanjuk richtigerweise verfolgen, dass ihm vorgeworfen wurde, er hätte sich gegen Befehle widersetzen müssen, jenen Richtern aber, die an Todesurteilen mitgewirkt haben, die geistige Verblendung als entlastend angerechnet wurde", sagt Rommel. Ihm sei kein einziger Fall bekannt, wo etwa ein SS-Mann, der einen Befehl verweigert hätte, um sein Leben hätte fürchten müssen. Vielleicht ist – ein Jurist würde so etwas nicht öffentlich sagen – Rommels Tätigkeit in Ludwigsburg auch ein Stück Wiedergutmachung für das fortgesetzte Unrecht, dessen sich Teile der bundesdeutschen Justiz nach 1949 schuldig gemacht haben.

Die Zeiten haben sich geändert: Rommel hat eine Wohnung in Ludwigsburg gefunden, obwohl er für die Zentralstelle arbeitet. Mittlerweile gibt es in der Stadt mit dem schönen Schloss und dem weitläufigen Barockgarten sogar einen privaten Förderverein, der die Arbeit von Rommel und seinen Kollegen unterstützt. Und mit dem Grünkrauter steht jemand an der Spitze, der die Öffentlichkeit nicht scheut: So wirbt er für ein baldiges Urteil des Bundesgerichtshofes über die Revision des in Lüneburg verurteilten Auschwitz-Buchhalters Oskar Gröning.

Großes Medieninteresse

Rommel und seine Leute sammeln Material über Menschen, die sich zwar nicht selbst die Hände blutig gemacht haben, die aber als Schreibkräfte oder Funkerinnen Teil der Vernichtungsmaschinerie waren. Ihnen soll Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden. Das internationale Medieninteresse an diesen Ermittlungen ist groß. Rommel erklärt der britischen BBC oder dem russischen Fernsehen, wie wichtig ein schnelles BGH-Urteil wäre, damit es im Fall Gröning eben nicht so geht wie im Fall des Ukrainers Demjanjuk, der während des Verfahrens gestorben ist. Rommel hofft, dass nach der Sommerpause entschieden wird, dass auch ein Schreibtischtäter der Beihilfe zum Mord angeklagt werden kann.

Die Zentralstelle kann lediglich ermitteln, Dossiers zusammenstellen und diese an die zuständigen Staatsanwaltschaften übermitteln. Die entscheiden dann, ob Anklage erhoben wird oder nicht. Das kann frustrierend sein, wenn die Eröffnung eines Verfahrens abgelehnt wird, weil der Staatsanwalt vielleicht überfordert ist. Mehr als 18000 Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen hat es seit 1958 in der Bundesrepublik gegeben, die meisten wurden von der Zentralen Stelle vorermittelt. Jedes zehnte Verfahren führte zu einer Verurteilung.

Der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West-Konfliktes haben den Staatsanwälten aus Ludwigsburg auch Archive in Osteuropa geöffnet: In Weißrussland und in Russland selbst arbeiten sie sich durch Gerichtsurteile, in denen Mitglieder von Einheiten genannt werden, die an Massenerschießungen und anderen Kriegsverbrechen beteiligt waren. „Doch 95 Prozent der Personen, die wir ermitteln, sind verstorben“, sagt Rommel.

Auch in Südamerika haben die Ludwigsburger nachgeforscht: In Argentinien, Chile und Peru sind sie die Passagierlisten der Überseeschiffe durchgegangen, die nach dem Zweiten Weltkrieg anlegten. „Oft waren Täter und Überlebende sogar auf dem gleichen Schiff unterwegs“, hat der Oberstaatsanwalt herausgefunden. Alle Täter in Südamerika waren tot. Rommel findet es „kaum zu ertragen“, wie viele, auch gerade der großen Täter, davongekommen sind.

Wer soll das Sagen haben?

Dass man doch endlich die Vergangenheit ruhen lassen möge, sagten viele in den 1970er- und 1980er-Jahren, die schlichtweg leugneten, dass diese grausame Geschichte Teil der deutschen Identität ist. Das gilt für Historiker, deutsche Politiker und Juristen der Gegenwart glücklicherweise nicht mehr. Rommel weiß, dass ihm die Zeit davonläuft, dass es bald keine Verdächtigen mehr zu ermitteln gibt. Also bleibt die Frage, wie man mit der Zentralstelle weitermacht: als Dokumentationszentrum, als Bildungsstätte? Wer soll das Sagen haben, die Justizminister der Länder, die Kultusministerien oder der Bund?

Die Arbeit des Landesbeamten Jens Rommel wirkt wie eine späte Verneigung vor Millionen Opfern. Es geht anders zu als bei den NS-Juristen, die früher in Ludwigsburg und an vielen Staatsanwaltschaften Deutschlands die Verfolgung von Verbrechen sabotierten. Heute herrscht Demut. Und die Einsicht, dass Gerichtsurteile nur ein Teil der Wiedergutmachung sind. Das Ausmaß der Verbrechen, sagt Jens Rommel, sei so gigantisch, dass jede juristische Aufarbeitung dahinter zurückbleiben müsse.