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Unsicherheit: Polizei kontrolliert verstärkt

Baden-Württemberg / Lesedauer: 6 min

Unsicherheit: Polizei kontrolliert verstärkt
Veröffentlicht:21.02.2016, 18:32

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Die Dealer aus Gambia sind weg. Stattdessen parken Polizeimannschaftswagen an der Stelle, wo der von den Stuttgart-21-Bauarbeiten umgepflügte Schlossgarten in die unterirdische Klett-Passage mündet.

Wo sonst junge Männer auffällig unauffällig an Wänden Spalier stehen, kontrollieren ein halbes Dutzend junger Polizeibeamter in dunkelblauer Einsatzkleidung den Ausweis eines arabisch aussehenden Mannes. Die Polizisten machen das, was ihr Chef eine Woche zuvor den Stuttgartern versprochen hat: Präsenz zeigen.

„Unsere Beamten werden wieder verstärkt zu Fuß in der Stadt unterwegs sein, Personen kontrollieren sowie, falls nötig, Platzverweise oder Aufenthaltsverbote aussprechen“, hatte Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz bei der Vorstellung der neuen „Sicherheitskonzeption Stuttgart“ angekündigt. Bundes- und Landespolizei haben ihre Präsenz massiv hochgefahren, gehen teilweise gemeinsam Streife.

Tag und Nacht belebt

Die Präsenz merkt man besonders an den Stellen, die als Brennpunkte in der Stadt gelten, an denen sich viele Menschen nicht mehr sicher fühlen. Im Kern ist dies eine Tag und Nacht belebte Achse, die vom neuen Einkaufszentrum Milaneo im Norden bis zum angejahrten Rotebühlplatz in der Mitte der Stadt führt. Und mittendrin liegt die belebte Klett-Passage, ein Menschenmassen pumpendes Herz des öffentlichen Nahverkehrs: Unterirdisch verbindet sie den Hauptbahnhof mit der Innenstadt, unter der Passage bündeln sich die Netze der S-Bahnen und U-Bahnen. Bis zu 300000 Menschen kommen hier jeden Tag vorbei. Und nicht jeder fühlt sich wohl. Die Klett-Passage ist ein Brennpunkt – zumindest gefühlt. „Man muss einfach sehen, dass das Sicherheitsgefühl vieler Menschen seit der Silvesternacht beeinträchtigt ist“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann .

In der Silvesternacht umringte auf dem Schlossplatz eine Gruppe von ungefähr 15 „Südländern arabischen Aussehens“ zwei 18-Jährige. „Die jungen Frauen wurden gegen 23.30 Uhr durch die Männer umringt, am Weitergehen gehindert und unsittlich berührt“, heißt es am 3. Januar im Polizeibericht. Als Passanten und Türsteher zur Hilfe kommen, lässt die Gruppe von den Frauen ab. Doch da sind ihre Handys bereits verschwunden.

Wäre nicht zeitgleich Ähnliches massenhaft auf dem Kölner Bahnhofsvorplatz geschehen und lange von der Polizei verschwiegen worden, die Sache hätte es wohl kaum zu mehr als einer Polizeinotiz in der Lokalpresse geschafft. Doch nach Köln ist alles anders. Auch in Stuttgart melden sich weitere Frauen, eine Woche nach Silvester spricht die Polizei von 17 Vorkommnissen mit aggressiven Männern, auch am Stuttgarter Bahnhof. Überregionale Medien sprachen von den Vorfällen in „Köln und Stuttgart“.

Die stillen Grünen

Jetzt ist alles anders: In Waffengeschäften ist das Pfefferspray ausverkauft, die Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen steigt, Clubbesitzer sprechen von einer aggressiven Stimmung in der Stadt. SPD-Innenminister Reinhold Gall setzte eine Ermittlungsgruppe Silvester ein, kündigte einen Fünf-Punkte-Plan für mehr Sicherheit an und versprach, dass die grün-rote Landesregierung bei der Ausrüstung der Polizei mit Körperkameras Tempo machen werde. Vor wenigen Monaten noch hatte der grüne Koalitionspartner umgehend schwere datenschutzrechtliche Bedenken geltend gemacht. Nun ist es bei ihnen merkwürdig still. Zuletzt hat die Grünen-Fraktion sogar mehr Polizisten gefordert – das ging aber unter, weil das jetzt ja irgendwie jede Partei will. Es scheint, als ob der Innenminister seinem Koalitionspartner gerade viel abverlangen kann, denn Köln hat viel verändert.

Stefan Keilbach ist Bürgerreferent der Stuttgarter Polizei. Auf die Frage, ob etwas seit Silvester anders sei, sagt er sofort: „Ja“. „Die Leute wollen mehr Sicherheitsgefühl“, sagt er. Das bedeutet: Mehr sichtbare Polizei. „Wenn wir stärker als bisher zu Fuß unterwegs sind, stellen wir fest, dass sich die Leute sicherer fühlen“, sagt Keilbach. Vielleicht ändert sich das wieder, doch aktuell scheinen die Menschen nicht genug zu bekommen von uniformierten Aufpassern.

Braun und orange unter Tage

Insbesondere in der 1976 eröffneten Klett-Passage, die trotz ihrer 2000 Quadratmeter großen Ladenflächen wenig einladend wirkt. Stadtplaner mochten vor vier Jahrzehnten noch geglaubt haben, dass der moderne Mensch trotz niedriger Decken und Röhrenleuchten gern unter Tage einkauft, wenn man nur die Unterführungen farblich in einem gemütlichen Dunkelbraun und Orange hält. Doch die Realität sieht anders aus.

Viele Pendler hetzen vorüber, wohl fühlen sich hingegen vor allem Leute, die die Passanten und Ladenbesitzer gar nicht so gerne sehen wollen: Mal gibt es Ärger mit allzu offensichtlich arbeitenden Strichern, mal mit den lauten Hunden von Punkern in Schlafsäcken, mal mit aggressiv bettelnden und in der Unterführung schlafenden Rumänen, mal mit Gruppen junger Männer, die zusammenstehen und auf Passanten irgendwie bedrohlich wirken.

140 Einsätze pro Tag verzeichnet die Landespolizei derzeit laut „Stuttgarter Zeitung“ in der Passage – das ist recht normal. Immer wieder wird berichtet, immer wieder verspricht die Polizei mehr Präsenz. Immer wieder geht es um die Furcht der Passanten.

Doch die spiegelt nicht immer die Lage wider: Schon 2014 sagte Ordnungsbürgermeister Martin Schairer: „Es gibt bei den Bürgern eine Diskrepanz zwischen gefühlter und tatsächlicher Sicherheit“. 2016 stellt ein Polizeisprecher klar: „Die Furcht vor der Klett-Passage ist nicht begründet.“

Es ist im Stuttgarter Untergrund wie im ganzen Land: Die Statistik kann das Gefühl der Unsicherheit bislang nicht bestätigen. Selbst die Zahl der Silvesterattacken scheint nicht ungewöhnlich gewesen zu sein, heißt es in Polizeikreisen. Offizielle Zahlen stehen noch aus.

Das Problem der gefühlten Unsicherheit ist nicht neu: Forscher wie die Berner Soziologin Renate Ruhne beschäftigen sich seit Jahren mit so genannten „Angsträumen“ wie Tiefgaragen, dunkle Parks oder Unterführungen wie die Klett-Passage. Ihre These: Da vor allem Frauen Furcht zeigen und solche Angsträume meiden, akzeptieren sie damit ein Ungleichgewicht im Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern. Stadtumbau, Zusatzbeleuchtung, Kameraüberwachung, Frauenparkplätze und -nachttaxen hätten zwar die Gesellschaft für das Problem sensibilisiert. Doch zu mehr Sicherheit habe dies kaum geführt, denn die meisten Straftaten passieren im vermeintlich geschützten Privaten.

Der private Raum ist gefährlicher

„Gefährlich ist für Frauen primär der private Raum, der Umgang mit Verwandten, Freunden und Bekannten. In 72 Prozent der Fälle kennen sich Täter und Opfer von Gewaltdelikten: Der öffentliche Raum ist demgegenüber vergleichsweise sicher“, notierte Ruhne 2007 in einem Aufsatz. Ihre Anregung: Nicht die Vermeidung, sondern bewusster Umgang mit Angsträumen – etwa ein Konzert in einer unwirtlichen Unterführung – können helfen.

Michael Stümpflen bereitet gerade ein großes Event vor: Im April wird die Klett-Passage nämlich 40Jahre alt. Die Mietervereinigung der Geschäfte in der Passage will das ordentlich feiern. Stümpflens Agentur betreut die Mieter – und ärgert sich entsprechend über das Angstraum-Image der Passage: „Wir haben die Situation im Griff“, betont Stümpflen. Jetzt im Winter würden mehr Randgruppenmenschen als sonst Unterschlupf suchen vor dem Wetter, aber das liege alles im normalen Bereich. Das Problem mit den aggressiven Bettlern habe man mit Platzverweisen gelöst – von Problemen mit Flüchtlingen weiß Stümpflen nichts.

Was passiert, wenn die Polizeipräsenz wieder abnimmt, will niemand so recht sagen. Sie aufrechtzuerhalten, dürfte aber schwierig werden: Sowohl Bundes- als auch Landespolizei schieben riesige Berge Überstunden vor sich her. „Wenn die Polizei weg ist, kommen die Dealer aus Gambia wieder zurück“, sagt einer, der es wissen muss.