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Mülltaucher und Foodsharer: Teller statt Tonne

Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Aktivisten sagen der Verschwendung den Kampf an
Veröffentlicht:23.11.2015, 07:00

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Hungern muss Tim nie. Der Kühlschrank zu Hause bei seiner Mutter ist immer gefüllt, der Tisch immer gedeckt. Trotzdem zieht der 17-jährige Schüler abends durch die Ulmer Innenstadt auf der Suche nach Lebensmitteln – begeht sogar Hausfriedensbruch, um an sie heranzukommen.

Es ist ein kühler Herbstabend, nur die Laternen spenden noch Licht: Tim steht im Hinterhof eines Supermarktes, den Kopf tief in eine Mülltonne gebeugt. Mit der bloßen Hand wühlt er im Müll, schiebt unter dem Lichtkegel seiner Taschenlampe faule Äpfel und klebrige Joghurtbecher beiseite. Schließlich hebt er eine Packung Couscous hervor. Nach einem prüfenden Blick ist klar: Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist noch nicht erreicht. Die Packung wandert in seine Tasche. Mülltauchen nennen er und Tausende Gleichgesinnte das.

Äpfel mit braunen Druckstellen, Salatköpfe, deren oberste Blätter welk sind, oder Joghurt, der bald abläuft: Nach Ladenschluss landen viele Lebensmittel in den Supermarkttonnen. Auf genau die haben es die Mülltaucher abgesehen. Wie Tim sind die meisten von ihnen nicht auf diese Lebensmittel angewiesen. Im Gegenteil: Die Mülltaucher wollen mit dieser Lebensweise ein Zeichen setzen. Gegen Lebensmittelverschwendung, gegen unsere Wegwerfgesellschaft. „Es landen so viele Sachen im Müll, die eigentlich noch gut sind“, sagt Tim. „Das kann nicht sein.“

Menüs aus dem Müll

Elf Millionen Tonnen Lebensmittel werden laut einer Untersuchung der Universität Stuttgart jedes Jahr weggeworfen in Deutschland. Auf den Handel fallen davon nur fünf Prozent. Was nach wenig klingt, reicht einer ganzen Szene, um Menüs aus der Tonne zu kochen. Beweisfotos gibt es zur Genüge in entsprechenden Gruppen auf Facebook . Kartons voller Bananen, Tomaten, Tütensuppen, Fruchtsäfte oder Fertiggerichte werden auf den heimischen Küchentischen aufgereiht und fotografiert, um sie im sozialen Netzwerk zu teilen. Fast 5300 Mitglieder hat die größte deutschlandweite Facebook-Gruppe. In Ulm sind es immerhin 64.

Ziegenkäse statt Möhren

Auch an diesem Abend ist Tim nicht der einzige Mülltaucher auf den Straßen Ulms . Noch bevor er die Container um die Ecke sehen kann, hört er ein Rascheln. Eine ältere Frau macht sich bereits an einer der Tonnen zu schaffen. Kurz halten beide inne. Als klar ist, dass keiner von ihnen ein Polizist oder Supermarktmitarbeiter ist, durchsuchen sie die Tonnen gemeinsam. Ein kurzer Plausch inklusive – gerade so, als hätte man sich eben an der Supermarktkasse getroffen. „Leider nicht so viel Gemüse da heute“, sagt Tim. „Aber mögen Sie Ziegenkäse?“ Er hält ihr die Packung hin. Nein, will sie nicht. Sie sucht nach Möhren. Auch Tim hatte sich mehr erhofft. Tims Vermutung: „Wahrscheinlich waren wir nicht die ersten.“

Gemeinsam mit seiner neuen Container-Bekanntschaft bringt er wieder Ordnung in die Tonnen. Was nicht mitgenommen wird, kommt da hin, wo es war. Die Müllsäcke in den Tonnen binden die beiden wieder zu. Schließlich soll keiner merken, dass sich jemand am Müll bedient hat. Rechtlich gesehen sind die Supermarktketten nämlich noch Eigentümer der weggeworfenen Lebensmittel. Das Mülltauchen ist somit Diebstahl, das Betreten des Supermarktgeländes Hausfriedensbruch. Erst im Mai dieses Jahres musste sich in Reutlingen eine 26-Jährige vor Gericht verantworten. 30 Kilogramm Obst und Gemüse hatte sie aus der Tonne eines Supermarktes gefischt. Das Verfahren wurde schließlich eingestellt.

Viele Supermärkte würden die Mülltaucher tolerieren, so Tim. Als er einmal von einem Mitarbeiter an den Tonnen erwischt wurde, hat der ihn lediglich gebeten, mit dem Durchsuchen der Tonnen bis nach Ladenschluss zu warten. Fragt man auf offiziellem Weg bei den Supermärkten an, hört sich das schon etwas anders an.

„Da im Restmüll auch verdorbenes Fleisch oder zerbrochenes Glas entsorgt wird, ist es extrem gefährlich, sich aus Mülltonnen zu bedienen“, sagt etwa eine Sprecherin der Bio-Supermarktkette Alnatura. Auch Kaufland warnt wegen des Gesundheitsrisikos davor, Lebensmittel aus den Containern zu essen. Dort werde nur Ware entsorgt, die verdorben oder ungenießbar sei. Alles andere werde vorher reduziert oder an die Tafel gegeben. Tims Erfahrungen spiegeln diese Aussagen nicht wider. Er hofft auch an diesem Abend wieder auf einen Beutel voller Leckereien – frisch aus der Tonne.

Gemüse für alle

Ein Innenhof in Ravensburg . Dort steht ein Regal befüllt mit grünen und roten Paprika, Tomaten und Salatköpfen. Das Gemüse ist an manchen Stellen schon etwas braun, aber durchaus noch essbar. Für diese Lebensmittel musste sich niemand in die Mülltonne beugen. Das Regal, in dem sich das Gemüse befindet, nennt sich „Fairteiler“ – und ist sozusagen der legale Gegenentwurf zum Mülltauchen.

Dahinter steckt der deutschlandweit aktive Verein Foodsharing – zu Deutsch: Essen teilen. Auch in Ravensburg gibt es eine Regionalgruppe. Die Mission: Supermärkte, Händler oder Bäckereien davon überzeugen, dass unverkäufliche Lebensmittel nicht in der Tonne landen sollten, sondern in jenem Regal. Hier darf sich dann jeder einfach umsonst bedienen. Ganz egal, ob bedürftig oder nicht. Eine öffentliche Speisekammer sozusagen, die mehrmals pro Woche von ehrenamtlichen Helfern aufgefüllt wird.

Christian Rahe vertritt Foodsharing in Ravensburg. Drei große Kisten prall gefüllt mit Gemüse holt er gemeinsam mit einer anderen Helferin an diesem Tag in der Markthalle ab. Wie einen Schatz vor die Brust gedrückt tragen sie die Plastikboxen durch die Gassen der Ravensburger Innenstadt zum „Fairteiler“ in der Herrenstraße. Wieso Rahe das in seiner Freizeit auf sich nimmt? „Ich kann nicht mit ansehen, wie Ressourcen verschwendet werden“, sagt Rahe.

Das will auch Gärtner Thomas Hinder nicht. Er hat Foodsharing das Gemüse geschenkt. Er hat es gepflanzt, gezogen und geerntet. Es jetzt nach monatelanger Arbeit wegschmeißen, nur weil es nicht mehr taufrisch ist? Für Hinder keine Option. Über seine Verkaufstheke in der Markthalle wird das Gemüse aber wohl auch nicht mehr gehen. „Die Kunden wollen für einen guten Preis eine gute Ware. Ware, die schon einen Tag alt ist, bleibt da liegen. Selbst wenn ich sie reduziere", sagt Hinder. So einsichtig wie er sind nicht viele. „Es ist schwierig, Händler zu finden, die sich beteiligen", sagt Rahe. „Wahrscheinlich haben sie Angst, dass Gewinne ausfallen." In Ravensburg seien es gerade einmal fünf Händler, die Foodsharing unterstützen.

Doch Foodsharing will nicht nur die Supermarktketten und Geschäfte erreichen: Auch Verbraucher sollen umdenken. Denn sie tragen mit 82Kilogramm pro Kopf jedes Jahr den Großteil zur Lebensmittelverschwendung bei. Foodsharing will das ändern. Wer zu viel eingekauft hat, spontan in den Urlaub fährt oder feststellt, dass die neu gekaufte Schokolade doch nicht schmeckt, kann das Essen über eine Internetplattform des Vereins anderen in der Nähe anbieten.

So wie Denise aus Ulm. Sie fordert die Foodsharing-Mitglieder auf, mit der Tupperdose bei ihr vorbeizukommen: „Wir haben in unserem schönen kleinen Garten sehr, sehr viel Trauben. Die schmecken wirklich wunderbar. Allerdings sind es so viele, dass wir sie nicht alle selbst aufessen können. Wir würden die Trauben gern mit euch teilen, bevor sie beginnen auf den Boden zu fallen.“

Lebensmittel retten, bevor sie im Abfall landen: Bis sich dieses Konzept durchsetzt und auch Lebensmittelketten mitziehen, wird Tim wohl noch einige Touren durch die Hinterhöfe der Supermärkte machen. Für heute allerdings stiehlt er sich ein letztes Mal vorbei an beleuchteten Hauseinfahrten zu den Supermarktcontainern. Als er einen der Container öffnet, durchdringt das Quietschen des Stahls die Stille. Und siehe da: Tim wird fündig. Joghurtbecher, die erst übermorgen ablaufen, ein paar Äpfel und neben dem Container eine Kiste mit jeder Menge Brot.

Ein bisschen enttäuscht ist Tim trotzdem. Der 17-Jährige hatte auf Schokolade gehofft. Ganze 15 Kilogramm Schokoriegel hat er einmal aus dem Müll geholt – alles noch lange haltbar. „Ich hab sogar beim Hersteller angerufen und gefragt, ob irgendetwas mit der Fuhre nicht in Ordnung ist, ob die Riegel vielleicht zurückgerufen wurden.“ Dem Hersteller war jedoch kein Mangel bekannt.

Am nächsten Tag hat Tim die Riegel in seiner Schulklasse verteilt. Dass die Schokolade aus dem Müll war, hat da niemanden gestört. Im Gegenteil: So manch einem gefiel wohl der Gedanke, ein Stück Schokolade zu essen und ganz nebenbei auch noch etwas gegen Lebensmittelverschwendung zu tun.