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Motorradlärm stört vielerorts die Menschen

Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Mangelnde Gesetze und Interessen der Hersteller verschleppen eine Lösung
Veröffentlicht:28.08.2015, 18:59

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Ein Gespräch mit Christine Fischel fällt schwer. Nicht, weil die 85-Jährige etwa schlecht hören würde, sondern weil die rüstige Seniorin in Thiergarten lebt, mitten im Donautal . Und weil an diesem Sonntagmittag alle paar Sekunden ein Motorrad an ihrer Haustür vorbeischießt und den Dialog zum Stottern bringt. „Eigentlich ist hier Tempo 50“, sagt Fischel, deren Haus an sonnigen Wochenenden Hunderte Motorräder passieren. Mal tief blubbernd, mal hysterisch kreischend, mal monoton summend. Mal seien es einzelne Motorräder in Hochfrequenz, „oftmals aber auch 10, 20 Fahrer in der Gruppe“. Die unentwegt an ihrem Nervenkostüm klopfen. „Der Lärm kann einen krank machen“, sagt die alte Dame.

Nun könnte man einwenden, wer Brummen, Donnern und Jaulen von Zweirädern nicht mag, sollte besser nicht an eine Rennstrecke ziehen. Doch eine Rennstrecke ist die kurvenreiche Verbindung zwischen Sigmaringen, Beuron und Tuttlingen wohl nur aus der subjektiven Sicht eines sportiven Kradfahrers. In Wirklichkeit prallen dort die Gegensätze aufeinander. Felsformationen ragen senkrecht in den Himmel, die Donau kriecht träge vor sich hin, parallel zu den Schienen einer Bimmelbahn verlaufen Wander- und Radwege, manch Erholungssuchender liegt auch nur bewegungslos im satten Grün dieser Idylle. Und lauscht dem Motorengegröle, das sich von den Serpentinen wie ein Lärmteppich über das Tal legt.

Diese schon absurd anmutende Koexistenz zwischen dem Wunsch nach Entschleunigung und jenem nach Beschleunigung findet sich an vielen Stellen im Land. Im Allgäu, im Rems-Murr-Kreis, im Schwarzwald, in Tübingen und Esslingen, überhaupt rund um Stuttgart; und immer öfter gehen die Bürger auf die Barrikaden, bilden Bürgerinitiativen, fordern ihr Recht auf ein ruhiges Wochenende ein. Wie Horst Siegel.

Der hat sich vor zehn Jahren ein Haus in Sulzbach an der Murr gekauft und musste im ersten warmen Sommer feststellen: „Ich wohne an einer Motorradpiste.“ Seither organisiert der Naturschützer vom BUND Widerstand und Aufklärung in Sachen lärmende Zweiräder. Dabei stößt er immer wieder an Grenzen: „Das ist wie ein Kautschukthema“, sagt Siegel. Weil jeder eine andere Antwort auf die Frage gebe: „Was ist laut?“ Der Gesetzgeber sei in dieser Hinsicht nicht sehr hilfreich. Das Problem: Der Grenzwert für die Lautstärke eines Motorrads wird bei einem durchschnittlichen Betriebszeitpunkt gemessen und festgelegt. Aber nicht beim lautesten Zeitpunkt, also wenn der Fahrer richtig Gas gibt. „Das Motorrad ist daher das lauteste Verkehrsmittel“, sagt Siegel, statt der Norm von 80 Dezibel seien 100 keine Seltenheit, was einem voll aufgedrehten Ghettoblaster entspricht. Mitten in der Natur. Ganz legal.

Das Problem verschärft sich von Jahr zu Jahr. Mehr als vier Millionen Motorräder kreuzen durch Deutschland, Tendenz steigend. Eine Million davon soll zu laut sein, andere Zahlen deuten auf einen höheren Anteil – weil die ohnehin moderaten Grenzwerte gerne geknackt werden. So hat die „Kontrollgruppe Motorrad“ der bayerischen Polizei im Juli dieses Jahres 1400 Biker gestoppt und dabei 308 Ordnungswidrigkeiten, 123 Verwarnungen und 18 Straftaten festgestellt. Die Beanstandungsquote von 30 Prozent sei, so ein Beamter, „ein immens hoher Wert“. Der BUND kritisierte: „Mindestens ein Drittel der Fahrer schraubt die Schalldämpfer von ihren Auspuffen, was ohrenbetäubenden Krach verursacht.“ Die Hersteller machen es ihnen leicht.

Waren die sogenannten „db-Killer“ oder „db-Eater“ früher fest verschweißt, lassen sie sich heute meist mit wenigen Handgriffen abmontieren. Wer es etwas kostspieliger und eleganter mag, ordert einen Zubehörauspuff, der in einem anderen EU-Land die Betriebserlaubnis erhalten hat und donnert damit jenseits der db-Norm über deutsche Straßen. „Selbst ein Nachweis, dass die EU-Auspuffe zu laut sind, führt nicht zum Erlöschen der Betriebserlaubnis“, sagt Holger Siegel . „Die EU-Regeln sehen hier keinen Rückgriff auf den Produzenten vor.“

Die laxe Gesetzeslage spielt auch den großen Herstellern ins Geschäft. „Der Sound eines Bikes gehört mit zu den wichtigsten Auswahlkriterien bei der Kaufentscheidung“, zitiert „Die Welt“ den Pressechef von Kawasaki Deutschland. Und der Horex-Entwicklungschef preist die „raue, fauchende Komponente“ seiner V-Motoren an. Um ihren Maschinen den akustischen und individuellen Biss zu verpassen, nutzen die Hersteller einen weiteren gesetzlichen Freiraum aus: Die sogenannte Auspuffklappensteuerung, die auch bei Oberklasseautos und Sportwagen eingesetzt wird.

Die mechanischen Klappen im Auspuff reduzieren den Fahrlärm genau in jenem schmalen Bereich, in dem die offizielle Fahrgeräuschmessung greift. In anderen Fahrzuständen, also bei höheren Drehzahlen, öffnen sich die Klappen – und der Motor grölt, wie es sich die Kundschaft wünscht. Ganz legal. Und in großer Masse.

„Die BMW R 1200 GS ist das meistverkaufte Motorrad in Deutschland. Es fährt auch mit Klappenauspuff“, sagt Michael Lenzen, Vorstand vom Bundesverband Deutscher Motorradfahrer, der sich im Gespräch moderat gibt. Der genauso wie Lärmgegner gegen die Klappentechnik ist. Der sich für einheitliche EU-Regeln bei Ersatz- und Zusatzteilen ausspricht. Der die Messstandards für Fahrgeräusche für veraltet hält. Der sagt: „Ich habe absolut Verständnis für Anwohner, die sich über zu viel Lärm beklagen.“ Der aber auch Verständnis für seine Klientel zeigt: „Sagen Sie mal jemandem, der mit einem nagelneuen Motorrad unterwegs ist, er soll es abstellen, obwohl alles legal ist.“ Die Gemengelage sei schwierig, „das Thema ist sehr emotional“.

Jenseits der Verbandsebene herrscht in der Tat ein rauer Ton. Anwohner sprechen von Enteignung durch Lärmverursacher, Motorradfahrer würden ihre Existenz kaputt machen. Die andere Seite schimpft über Spießertum und Querulanten. Seit Jahren sucht die Polizei einen Serientäter, der im Allgäu in Kurvenbereichen absichtlich Ölspuren ausgelegt hat, ein Motorradfahrer verunglückte tödlich. In der Eifel, ebenfalls eine Motorradgegend, gab es ähnliche Fälle. Nicht wenige Beobachter vermuten dahinter Motorradhasser.

„Die Fronten sind verhärtet“, bestätigt Michael Lenzen. Sein Gegenpart Holger Siegel sieht es genauso, im Gespräch mit stoischen Motorradfahrern komme er sich vor, als ob „der Pudding von der Wand läuft“. Doch wie tickt die Seele des Motorradfahrers wirklich?

Roland Werk sitzt in einem Café im Donautal, allein seine Erscheinung weist ihn als erfahrenen Biker aus. Hohe Stirn, ein Kranz grauer Haare, Ohrringe, das Bäuchlein verdeckt eine Lederweste und ein schwarzes T-Shirt, das einen Höllenreiter mit Totenkopf zeigt. „Klar gibt es die Krauttüten, die hohe Gänge fahren und eine Strecke 20-mal rauf und runter brettern“, sagt der 49-Jährige. Für ihn schwarze Schafe der Szene, Werk selber fährt eine verhältnismäßig leise 1100 Goldwing, in seiner Garage steht auch eine Harley. Das Problem ist für ihn ein anderes: „Alles was verboten ist, reizt.“ Polizeikontrollen? Makulatur. Streckensperrungen, wie es sie inzwischen vielerorts gibt, würden nichts bringen, „da fahre ich trotzdem durch“. Und das Lärmproblem ließe sich „von allein lösen, wenn man die Grenzwerte ganz abschaffen würde“, sagt Werk. Der Biker blickt über das Donautal und sagt: „In manchen Dingen werden wir viel zu viel bevormundet.“ Motorradfahren sei für ihn noch immer „Ausdruck der Individualität“.

Freiraum und Gestaltungswillen

Genau hier liegt der entscheidende Punkt. Macht Motorradfahren überhaupt Sinn, wenn alle Maschinen gleich klingen? Alle nach Nähmaschinen? Muss ein Motorrad nicht auch ein Stück weit laut, ein Stück weit einzigartig sein? Weil das Gehörtwerden zum Kulturgut und seinem Fahrer dazugehört? Oder sind die Zweiräder aus der Zeit gefallen? Nicht mehr von dieser Welt, in der der Gesetzgeber uns nächtens auf Tempo 30 abbremst? In der ein einziges Motorrad reicht, um ein ganzes Dorf aus dem Schlaf zu reißen? Der Gesetzgeber wird Antworten geben müssen, wie viel Freiraum und Gestaltungswillen er dem Einzelnen zugesteht. Und wie weit er andererseits dem Ruhebedürfnis einer Mehrheit folgt.

Christine Fischel aus Thiergarten hilft sich selber. Sie hat ihr Schlafzimmer zum Garten hin ausgerichtet, „es ist das kühlste Zimmer im Haus“. Dort kann die 85-Jährige auch im Sommer die Fenster schließen. Damit niemand an ihr Nervenkostüm klopft.

Mehr Infos zum Thema Motorradlärm im Internet unter

motorradlaerm.de und bvdm.de