Tierversuche

Leben und töten lassen

Baden-Württemberg / Lesedauer: 8 min

Unverzichtbar sind die Versuche deshalb aber nicht
Veröffentlicht:25.11.2015, 10:22

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Er beobachte jede Veränderung an ihnen, sehe wie sie aufwachsen und sich entwickeln, erzählt Florian Dehmelt. Irgendwann spritze er ihnen ein Betäubungsmittel, um sie zu töten. „Dann beobachte ich unter dem Mikroskop, wie ihr Herz aufhört zu schlagen.“

Die Rede ist von Zebrafischen. Dehmelt, 31, ist Neurowissenschaftler und führt in Tübingen Tierversuche durch. Seit Frühjahr arbeitet er im Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) und forscht dort, wie es die Nervenzellen im Gehirn der Tiere schaffen, sich untereinander abzustimmen. Dadurch erhofft er sich Erkenntnisse für die Heilung von Krankheiten beim Menschen, dessen Gehirn in diesem Areal ähnliche Strukturen aufweist wie das des Zebrafischs. Manchmal muss Dehmelt für den Fortschritt eben Fische töten. „Das ist nichts, was einem egal sein kann“, sagt er. „Emotional bleibt es immer etwas Besonderes.“

Tierversuche gehen unter die Haut – buchstäblich. Ein Affe mit ins Gehirn eingeführter Elektrode und blutverschmiertem Kopf im Labor des Tübinger Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik erhitzte 2014 die Gemüter. Ein Mitglied des Augsburger Vereins Soko-Tierschutz filmte mit versteckter Kamera, „stern TV“ sendete daraufhin einen emotionalen Beitrag mit den Bildern. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch heute wegen Verdachts auf Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. Der Konflikt zwischen Wissenschaftlern und militanten Tierschützern eskalierte: Nikos Logothetis, Hirnforscher und Direktor des Instituts, erhielt Morddrohungen. Der Forscher gab auf, stellte die Arbeit an Affen ein. Die bereits genehmigten Versuche sollen bis Ende 2016 beendet werden, heißt es auf Anfrage beim Max-Planck-Institut .

Auch wegen der zunehmenden Anfeindungen gründete Florian Dehmelt mit anderen Forschern den privaten Verein „Pro-Test Deutschland.“ Das Ziel: Einerseits will man die gehemmte Pressepolitik von Forscherseite ankurbeln und mehr Offenheit zeigen – andererseits möchte der Verein die Bevölkerung in der oft einseitig geführten Debatte aufklären. Mit sachlichen Informationen soll erläutert werden, wer mit Tierversuchen arbeitet und wann und wie dies geschehe. Dehmelt hält sich nicht für einen radikalen Verfechter für Tierversuche, aber für einen überzeugten Fürsprecher.

Wenn er seine durchsichtigen Zebrafische unters Mikroskop legt, betreibt der Wissenschaftler auch Grundlagenforschung. Einen direkten Nutzen gibt es ioft nicht, was Tierschützer empört. Ob man durch Untersuchungen an Affengehirnen irgendwann Alzheimer oder Demenz heilen kann, könne kein Mensch voraussagen, sagt Dehmelt. „Könnte man konkret sagen: Ich bringe diesen Affen um, weil dann das kleine Kind da vorne von Krebs geheilt wird, wäre Grundlagenforschung wesentlich einfacher zu erklären.“

Hätte man seit jeher darauf verzichtet, wäre aber nie der Hirnschrittmacher erfunden worden, sagt Dehmelt. Den haben Forscher bei Versuchen mit Affen entwickelt. Nach der Feststellung, dass eine synthetische Droge ähnlich wie Parkinson wirkt, hätten Forscher diese Droge Affen verabreicht und dann getötet. Durch Untersuchungen an den Affengehirnen konnten die Wissenschaftler verstehen, welcher Gehirnbereich bei Parkinson nicht funktioniert. Heute bekommen Menschen mit Parkinson eine Elektrode in den Kopf, um so gravierende Bewegungsstörungen zu unterdrücken. „Dafür wurde über zehn bis 15 Jahre eine niedrige zweistellige Zahl an nicht humanen Primaten geopfert“, sagt der Neurowissenschaftler. Nicht humane Primaten sind Rhesusaffen oder Javaneraffen, die nicht zu den Menschenaffen wie Schimpansen oder Gorillas gehören. Versuche mit Menschenaffen gibt es in Deutschland seit 1991 nicht mehr. Hunderte Affen seien über Jahrzehnte aber getötet worden, weil die Versuche mit ihnen ins Leere liefen. Auch das verschweigt Dehmelt nicht.

Deutschlandweit gab es im Jahr 2013 drei Millionen Wirbeltiere, die für Tierversuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendet wurden. Gegenüber den jährlich rund 750 Millionen in Deutschland geschlachteten Tieren wirkt diese Statistik verschwindend gering. Dennoch hallt der Aufschrei der Tierschützer bei diesen Zahlen deutlich länger nach. Vielleicht auch, weil es seit dem Jahr 2000 – damals waren es noch 1,8 Millionen Tiere – einen signifkanten Anstieg gibt. In Baden-Württemberg gab es laut Landwirtschaftsministerium vom Jahr 2011 bis 2013 zwar einen Rückgang um 15 Prozent, mit 495 000 Tieren war der Südwesten hinter Nordrhein-Westfalen aber das Bundesland mit den meisten Tierversuchen. Ungeheuerlich und unethisch sagen Tierschützer, unverzichtbar sagen Forscher wie Dehmelt. „Das bekommen Sie im Reagenzglas nicht hin“, betont er. Wirklich nicht?

Zwischen Pipetten und Petrischalen beobachten zwei junge Laborantinnen der Uni Konstanz eine leicht rötliche Flüssigkeit in Behältern. Darin lagern neurale Stammzellen, die bereits 1998 von einem Menschen isoliert wurden und seitdem wachsen. Die Zellen werden in 400Laboren weltweit gleichzeitig erforscht.

Langzeitfolgen bei vergifteten Zellen werden erforscht

Aus einem Radio dröhnt ein alter Queen-Song, im schmal geschnittenen Raum hätten Tierkäfige gar keinen Platz. In vitro lautet hier das Schlagwort – im Reagenzglas. „Die Zellkulturen werden jetzt mit neuem Nährmedium gefüttert“, erklärt Marcel Leist , ein schlanker Toxikologe mit Brille und graumeliertem Haar. „In diesem Projekt werden die Zellen vergiftet und Langzeitfolgen überprüft, etwa wie sich das Rauchen einer Mutter in der Schwangerschaft auf ein Baby oder Kind auswirkt“, erklärt er. Seit 2010 leitet Leist in Konstanz den Lehrstuhl des „Zentrums für Alternativmethoden zum Tierversuch“, in diesem Jahr gewann er den Tierschutzforschungspreis des Bundeslandwirtschaftsministeriums. In der prämierten Arbeit wurde gezeigt, wie mit Hilfe von Zellkulturen die Interaktionen im Gehirn modelliert werden können. Das Modell kann bei Alzheimer, Schlaganfällen und auch Parkinson angewandt werden. Theoretisch könne man in den nächsten zehn Jahren dadurch 100000 Tiere einsparen.

„Diese Forschungen hätte man aber auch schon vor 20 Jahren machen können“, sagt Leist. Das Problem: „Man hat alles auf eine Karte gesetzt.“ Die Karte Tierversuche. Forschung ist ein Milliardengeschäft, doch vom Geld der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Europäischen Union fällt für Alternativforschung laut Leist bisher „nicht mal ein Prozent“ ab. Immerhin: Ab 2016 wird das Land Baden-Württemberg, das bislang landesweit 400 000 Euro jährlich für Alternativmethoden ausgibt, den Konstanzer Lehrstuhl in sein Budget aufnehmen. Dass auch Tierversuche in den vergangenen Jahrzehnten Vorteile gebracht hätten, bestreitet Marcel Leist gar nicht. Er sieht nur nicht alles so wie etwa der Tübinger Neurowissenschaftler Dehmelt. Natürlich sei es spannend, Gehirne von Mäusen oder Affen zu verstehen, aber es wären trotzdem keine menschlichen Gehirne. „Es gibt ganz viele ähnliche Sachen, aber Affen fliegen eben nicht zum Mond, bekommen kein Parkinson und auch kein Alzheimer“, sagt der Konstanzer Toxikologe.

Auch mit seiner Methode der menschlichen Nervenzellen alleine glaubt er nicht ans Ziel zu kommen. Man müsse eben beides kombinieren – und könnte dadurch trotzdem viele Tierversuche ersetzen.

Marcel Leist und seine Kollegen arbeiten nach dem Prinzip der „3 R“: replace, reduce, refine – ersetzen, verringern, verfeinern. Ist ein Tierversuch unvermeidlich, „führt man ihn durch, aber nur mit Analgetika, Anästhesie und guter Tierhaltung“, sagt Leist, der früher selbst bei einem dänischen Pharmaunternehmen mit Tieren arbeitete. Auch weil er merkte, dass Tiermodelle – gerade bei Alzheimer und Demenz – nichts gebracht haben, hat er die Seiten gewechselt. „Heute machen Pharmahersteller wie Roche, Novartis oder Boehringer Ingelheim Stammzellenforschung im Neurobereich, um Hirnstrukturen zu entwickeln.“ Groß prahlen tun die Firmen deswegen nicht, schließlich haben sie in den vergangenen Jahrzehnten Millionen an Versuchstieren verbraucht. Leist setzt dabei den Hirnschrittmacher, „der nur bei schwerer Parkinson-Erkrankung eingesetzt wird“, in Relation: „In diesem Fall hat ein Affen-Modell funktioniert, aber 99 Prozent der Affenversuche in der Medikamentenentwicklung haben eben nie funktioniert“, gibt er zu bedenken. Immerhin: Die Pharmabranche hat, im Vergleich zu den 80er-Jahren, laut Leist rund 90 Prozent der Tierversuche durch Alternativen ersetzt. Auch hat die EU 2013 verboten, Kosmetika an Tieren zu erproben.

Mäuse sterben massenhaft für Botox-OPs

Trotzdem starben laut Daten des Bundeslandwirtschaftsministeriums 2013 in Deutschland rund 22000 Mäuse bei speziellen Tiertests – für Botoxprodukte. Das Absurde: Das Schönheitsmittel gilt – weil es vom Arzt gespritzt wird – rechtlich nicht als Kosmetika. Jede einzelne Charge muss auf Giftigkeit geprüft und beim Test Mäusen gespritzt werden. Die Folge: Teils tagelange Krämpfe, Lähmungen und Atemnot. Insgesamt waren 2013 gut zwei der drei Millionen Versuchstiere Mäuse. Es gilt laut Leist als sehr wahrscheinlich, dass Botox bald nur noch in Alternativmethoden getestet wird.

Tierversuche generell zu verbieten, sei aber fast unmöglich. Zwar muss jeder Antrag verschiedene Genehmigungsbehörden durchlaufen und der Nachweis erbracht werden, dass es keine Alternativen gibt, doch ein Antrag lasse sich laut Leist so formulieren, dass es keine Alternativen gibt – vor allem in der Grundlagenforschung, die weiterhin einen Großteil der Tierversuchsforschung ausmacht. Schließlich garantiere das Grundgesetz Forschungsfreiheit.

Neurowissenschaftler Dehmelt glaubt nicht, dass man auf Tierversuche irgendwann verzichten könne, „um die Fragen zu beantworten, die die Menschheit beantworten möchte“. Auch der Konstanzer Toxikologe Leist hält es für „vollkommenen Unsinn“, Tierversuche in naher Zukunft abzuschaffen, wie es Tierschützer fordern.

In 20, 30 Jahren ist er überzeugt, könne man aber auf einen Großteil verzichten. „Wenn dann 80 Prozent der Tierversuche ersetzt sind“, sagt Marcel Leist, „würde ich glücklich im Grab liegen.“