StartseiteRegionalBaden-WürttembergHirsche: König der Schädlinge

Wild

Hirsche: König der Schädlinge

Baden-Württemberg / Lesedauer: 7 min

Hirsche dürfen sich nur in Mini-Gebieten aufhalten – Mehr Freiraum für die Tiere scheitert bisher an Forst- und Landwirtschaft
Veröffentlicht:29.09.2015, 06:00

Von:
Artikel teilen:

Wo das württembergische Allgäu zu Ende geht, liegt Rohrdorf. Eine Kirche, zwei Wirtschaften, Häuser und Höfe drumherum.

Wer von auswärts kommt, meint, Fuchs und Hase sagen sich hier gute Nacht. Dies liegt vielleicht daran, dass gleich hinter dem Dorf der Bergwald beginnt. Er bedeckt die Adelegg, einen abgelegenen Ausläufer der Allgäuer Alpen. Auf seinen Höhen gibt es etwas, das in Baden-Württemberg Seltenheitswert hat: Rotwild, Hirsche. Rund 100 Stück sollen es sein. Manchmal gelingt es Wanderern, einen Blick auf sie zu erhaschen – so wie Karlheinz Tränkle , einem Rentner aus dem Bodenseeraum. Er hat oft die Adelegg zum Ziel und schnürt gerade am Ortsrand seine Stiefel. Tränkle berichtet: „Majestätisch, wenn ein Hirsch auf eine Lichtung zieht.“

Mächtige Feinde

Diesen Eindruck hatten bereits schwärmerisch veranlagte Naturliebhaber vergangener Zeiten. Sie sprachen vom König der Wälder, wenn es um einen kapitalen männlichen Vertreter dieser größten heimischen Wildart ging. Im baden-württembergischen Wappen dient er sogar als Schildhalter. Heutzutage ist aber von dieser Herrlichkeit in den Landstrichen des Südweststaates wenig übrig. Das Rotwild wird stark bedrängt, hat mächtige Feinde, menschliche in diesem Fall. So hält mancher Vertreter aus dem Kreis der Waldbesitzer den Hirsch für einen bloßen Forstschädling, nicht anders als ein Borkenkäfer. Dies ist der tiefere Grund der 1958 für Baden-Württemberg erlassenen Rotwildverordnung. Sollte sich beispielsweise ein Stück Rotwild von Rohrdorf aus in Richtung des nahen Kurstädtleins Isny verirren, muss es getötet werden. Es gibt nur für einen Hirsch mit Supergeweih eine Ausnahme. Warum, lässt sich nicht mehr sicher sagen. Vermutlich liegt es am hohen Wert solcher Tiere.

4500 Stück Rotwild

Die Abschuss-Verfügung ist keine Besonderheit der Adelegg. Sie hat damit zu tun, dass die Rotwildverordnung bloß scharf abgegrenzte Gebiete für diese Tiere kennt. Sie liegen im Odenwald, im Nord- und Südschwarzwald, im Schönbuch und eben in der Adelegg – Quasi-Reservate für gegenwärtig etwa 4500 Stück Rotwild. 1958 meinte man, dort verursache es am wenigsten Ärger. Letztlich wurden ihm nur vier Prozent der Landesfläche gegönnt. Dies könnte sich aber ändern. Seit Tierrechte ins Grundgesetz eingegangen sind und Biotopvernetzungen auf der Tagesordnung stehen, wirkt die alte Reglung verstaubt. Politisch hat sich in Baden-Württemberg der grüne Landtagsabgeordnete Reinhold Pix an die Spitze der Revisionsbewegung gesetzt. Er ist forstpolitischer Sprecher seiner Fraktion. „Bei einem gesellschaftlichen Konsens kann der Rothirsch überall in Baden-Württemberg leben“, meint Pix. Schon in zwei, drei Jahren sei dies vorstellbar.

Der unweit des Südschwarzwalds ansässige Pix ist kein blauäugiger Rotwildfan. Er hat zu diesem Thema ein Positionspapier verfasst. Darin ist viel von Wildmanagement die Rede. Der Begriff beinhaltet, dass die Bestände unter Kontrolle gehalten werden müssen – zum einen durch Abschüsse, aber laut Pix auch durch Raubtiere. Er setzt auf den Luchs: „Ohne seine Verbreitung kann es kein Rotwild in der Fläche geben.“ Wobei seine Ansichten für die baden-württembergische Forstkammer dennoch wie eine Kriegserklärung wirken müssen.

Jerg Hilt, Sprecher dieser Vereinigung der privaten Waldbesitzer, betont: „Eine Ausweitung oder gar Auflösung der Rotwildgebiete lehnen wir derzeit eindeutig ab.“ Er befürchtet ansonsten im ganzen Land „erhebliche Schäden in Wald, Landwirtschaft und Flora“. Beim Landesbauernverband ist die Position nicht viel anders: „Die Rotwildgebiete haben schon ihren Sinn“, sagt dessen Agrarrechtsreferent Heiner Klett.

Die CDU im Land hält den Waldbesitzern und Bauern die Stange. Eine flächendeckende Verbreitung des Rotwilds werde nicht angestrebt, teilt Wolfgang Reuther, jagdpolitischer Sprecher der schwarzen Landtagsfraktion, mit. Er befürchtet „unvereinbare gesellschaftliche Konflikte“. Interessanterweise stellt sich die CDU damit gegen den Landesjagdverband, obwohl der traditionsgemäß dem konservativen Lager zuneigt. Die wichtigste Dachorganisation der Weidmänner im Südwesten will dem Hirsch „die Neubesiedlung geeigneter Lebensräume“ ermöglichen. Dies müsse natürlich mit „anderen gesellschaftlichen Gruppen abgestimmt werden“, meint Klaus Lachenmaier, Natur- und Artenschutzreferent des Landesjagdverbandes.

Hierbei suchen die Jäger trotz ideologischer Reibereien die Nähe des Grünen Pix. Ebenso umgarnen sie den einflussreichen Naturschutzbund Nabu. Dessen Landeschef André Baumann zögert: „Grundsätzlich bin ich langfristig gesehen dafür. Aber es müssen noch viele Fragen geklärt werden.“ So dürfe der Wald keinen Schaden nehmen. Die Jäger müssten sich mit einer kurzen Jagdzeit anfreunden, um das Wild nicht über Monate zu beunruhigen. Doch der Druck, die Rotwildverordnung zu ändern, nimmt zu. So verweisen Befürworter darauf, dass nicht alle Bundesländer solche Regelungen kennen. Die Stadtstaaten sowieso nicht, aber ebenso wenig das Saarland, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Zudem bemühen Pro-Hirsch-Aktivisten die hierzulande propagierte Willkommenskultur für Wolf und Luchs.

„Beide Arten werden lautstark gefördert, während unsere größte Wildart diskriminiert wird“, stellt der Ravensburger Kreisjägermeister Peter Sonntag fest. Wobei die weidmännische Basis im Gegensatz zu ihrer Führung in Sachen Rotwild uneinig ist. Mancher Jagdpächter fürchtet, dass er bei Hirschen im Revier viel Geld für Wildschäden zahlen muss und sagt, es solle am besten alles beim Alten bleiben.

Immer wieder kommt die Diskussion auf den Kern des Problems: Was kann das Rotwild anrichten? Wer steht dafür gerade? Eigentlich ist es eher in offenen Landschaften unterwegs. Sie sind aber in Mitteleuropa meist vom Menschen belegt. Das Rotwild wurde in den Wald abgedrängt, wo es gerne Rinde von Bäumen futtert. Die Folge: Schälschäden. Der betroffene Baum verliert an Wert, geht vielleicht ein. Wer von der Forstwirtschaft lebt, neigt dann dazu, Gift und Galle zu speien. Wirtschaftliche Interessen wiegen also schwer. Dies sieht offenbar auch Alexander Bonde so, der Grünen Minister für den ländlichen Raum. Als der Münsinger FDP-Landtagsabgeordnete Andreas Glück vor drei Jahren vorschlug, im Biospährengebiet Schwäbische Alb Rotwild zuzulassen, handelte er sich eine glatte Abfuhr ein. Bonde verwies zusätzlich noch auf die Unfallgefahr, die von diesen großen Tieren ausgehe, sollten sie auf eine Straße springen.

Mögliche Schäden reduzieren

Doch auch in seinem Ministerium gibt es Bewegung. Die Möglichkeit einer Auflösung der Rotwildgebiete wird nicht mehr komplett verneint. Erst sei es jedoch nötig, die Probleme in den bestehenden Zonen zu lösen. Die Schäden müssten auf „ein tragbares Maß“ reduziert sein. In diesem Zusammenhang richtet sich der Blick hoffnungsvoll auf das Rotwildgebiet im Südschwarzwald. Vor gut zehn Jahren wurde dort ein revierübergreifendes Konzept entwickelt, bei dem alle Betroffenen an einem Tisch sitzen. Es gibt Regelungen für die Wilddichte, für Fütterungen, für Ruhezonen und für den Waldbau. Selbst an Ausflügler ist gedacht. Sie sollen Chancen haben, einen Hirsch in freier Wildbahn zu sehen.

Entscheidend an dem Projekt beteiligt ist die Forstliche Forschungs- und Versuchsanstalt in Freiburg im Breisgau. Bisher sei man mit den Ergebnissen im Südschwarzwald zufrieden, hat ihr Leiter Rudolf Suchant mehrmals betont. Als nächstes soll es nun im Nordschwarzwald eine Reform im dortigen Rotwildgebiet geben – und vielleicht dann der große Wurf für ganz Baden-Württemberg.

Der Jäger Franz Josef Strauß

Wobei dies gerade den Hirschen der Adelegg nicht unbedingt hilft. Ihr traditionelles Streifgebiet führt auf die bayerische Seite des Gebirges, wo sie nicht geduldet werden. Die weiß-blauen Adelegg-Teile waren zwar bis 1978 im Freistaat als Rotwildgebiet ausgewiesen. Aber ausgerechnet der damalige Ministerpräsident Franz Josef Strauß, obwohl selber begeisterter Jäger, ließ die Zone auflösen – in diesem Fall, um die Bestände zur Ausrottung freizugeben. Es standen Wahlen vor der Tür. Die Waldbesitzer erschienen ihm wohl von allen Interessensgruppen am wichtigsten.