Barrierefreiheit

Fahrgast dritter Klasse

Baden-Württemberg / Lesedauer: 8 min

Die Deutsche Bahn steht in Sachen Barrierefreiheit schlecht da – Bis es keine Hindernisse mehr gibt, werden noch Jahrzehnte vergehen
Veröffentlicht:19.09.2014, 23:13

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Kurzentschlossene gehören zum Tagesgeschäft bei der Deutschen Bahn. Zumindest dann, wenn sie Hindernisse selbst überwinden können. Für „mobilitätseingeschränkte Personen“, wie die Bahn sie nennt, gilt das nicht.

Memminger Bahnhof am frühen Nachmittag. Drei Schaffner stehen auf dem Bahnsteig neben einem Intercity. In fünf Minuten ist Abfahrt. Ein spontaner Besuch bei Freunden steht an. Mein Ziel: Sonthofen im Allgäu. Ich bitte die Schaffner, mich mit meinem Rollstuhl in den Zug zu heben. „Das dürfen wir nicht“, sagt einer der Drei. „Sie müssen sich anmelden“ Genauer gesagt: 24 Stunden vorher muss sich ein Mensch mit Behinderung anmelden, um in den Zug gehoben zu werden. Offiziell reicht zwar 20 Uhr am Vortag aus, in der Realität ist das jedoch meist zu spät. „Versicherungstechnische Probleme“ seien der Grund dafür, dass sie nicht anpacken dürfen, sagt ein Schaffner. Man habe Angst, dass etwas passiert.

Nur ein geeigneter Platz

Schon auf dem Schulweg habe ich täglich die Erfahrung gemacht: Mit der Bahn unabhängig zu reisen, ist als Mensch mit Behinderung unmöglich. Das hat sich seitdem nicht geändert. Mittlerweile weiß ich, worauf ich mich einstellen muss, wenn ich mit dem Zug unterwegs bin.

Zurück zum Bahnhof: Nachdem mich zwei freundliche Mitfahrer in den Zug gehoben haben, kann es losgehen. Jedoch: In der Hektik bin ich eine Tür zu weit hinten eingestiegen. Der einzige Rollstuhl-Stellplatz im Zug ist im anderen Waggon. Durch den Flur zum richtigen Platz, das geht nicht: Mein Rollstuhl ist zwei Zentimeter zu breit. Eine rollstuhlgerechte Toilette gibt es, doch auch die ist einen Wagen weiter vorne. Nach wenigen Minuten: Fahrscheinkontrolle. Beim Vorbeigehen bemerkt der Schaffner den leeren Rollstuhl im Einstiegsbereich. Ich sitze auf dem ersten Platz im Abteil, dorthin bin ich mit dem Rollstuhl noch gekommen. „Der kann hier so nicht stehen bleiben, das Behindertenabteil ist weiter vorne“, sagt der Schaffner. Man könnte den Eindruck bekommen: Neben erster und zweiter Klasse gibt es bei der Bahn eine dritte.

Viele Fragen, wenig Antworten

Wer als Rollstuhlfahrer mit dem Zug unterwegs ist, steht vor Fragen, auf die es nicht immer eine Antwort gibt: Was tun etwa, wenn ich einen Anschlusszug verpasse? Die Anmeldung am Vortag, sie ist hinfällig. Die neuen Umstiege müssen kurzfristig umgemeldet werden, vom Schaffner, für jeden Umstieg extra. Ob der Umstieg schließlich klappt, hängt von den Kapazitäten des Servicepersonals am Bahnhof ab. Der Schaffner kann nicht helfen, den Hublift nicht bedienen. Zumindest bei der Abgrenzung von Zuständigkeiten hat bei der Bahn alles seine Ordnung.

Später auf der Fahrt, das nächste Hindernis. Ein Zugbegleiter überbringt mir die Nachricht: Der Sonthofener Bahnhof ist nicht barrierefrei. Zudem: Kein Mobilitätsservice vor Ort. „Da können Sie nicht aussteigen.“ Anstatt in Sonthofen auszusteigen, solle ich bis Oberstdorf weiterfahren. Ob die Bahn das Taxi zurück nach Sonthofen bezahlt? Das weiß er nicht. Also ignoriere ich den Ratschlag, nach Oberstdorf zu fahren. Zwei Mitfahrer packen schließlich in Sonthofen an; schon bin ich draußen.

Barrierefreiheit indes gestaltet sich nicht nur an kleinen, abgelegenen Bahnhöfen schwierig. Auch an großen Fernbahnhöfen gibt es Schwierigkeiten: Nicht überall stehen Hublifte. In Ulm beispielsweise gibt es noch nicht einmal einen Aufzug, nur eine Rampe für Gepäckwagen. Gleiches gilt beispielsweise für den Augsburger Hauptbahnhof. Zwar betont Ellen Engel-Kuhn , Leiterin der Kontaktstelle für Behindertenangelegenheiten bei der Deutschen Bahn, dass „75 Prozent unserer Bahnhöfe heute schon stufenlos zugänglich“ seien. Das sagt allerdings wenig aus über die Barrierefreiheit auf den Bahnsteigen selbst.

So gibt es drei verschiedene Bahnsteighöhen: 98 Zentimeter für S-Bahnen, 55 Zentimeter für den Nahverkehr und 76 Zentimeter im Fernverkehr. „Zusätzlich gibt es noch viele Bahnsteige mit 38 Zentimetern Höhe oder sogar weniger“, sagt Engel-Kuhn. Heißt: Hält ein Fernzug an einem Bahnsteig, der für Nahverkehrszüge ausgelegt ist oder umgekehrt, müssen immer Stufen überwunden werden. „Sinnvoll wären einheitliche Bahnsteighöhen“, sagt Engel-Kuhn, aber da hätten die Bundesländer nicht mitgespielt. Das Problem: Für den Fernverkehr ist die Bahn selbst zuständig, für den Nahverkehr das jeweilige Bundesland. Zu teuer sei der Umbau, mit fünf Milliarden Euro bundesweit. So werde es auch in den nächsten 40 bis 45 Jahren noch keine einheitliche und uneingeschränkte Barrierefreiheit geben können, räumt Engel-Kuhn ein. Die Abstimmung zwischen Bundes- und Landesebene scheint bei der Bahn nicht zu funktionieren.

Wie viel die Deutsche Bahn in die Verbesserung der Barrierefreiheit investiert? Dazu gibt es keine Zahlen. Das werde nicht separat erfasst, sondern sei „selbstverständlicher Teil der Gesamtinvestitionen“, sagt Engel-Kuhn. Ein Vergleich: In der Schweiz ist seit 2004 gesetzlich festgelegt, dass bis zum Jahr 2023 der komplette Öffentliche Verkehr barrierefrei sein muss.

Die Schweizer Bundesbahn (SBB), etwa um das Zehnfache kleiner als die Deutsche Bahn, investiert bis 2023 umgerechnet rund 102 Millionen Euro in die Barrierefreiheit der Infrastruktur. Die SBB deckt etwa 60 Prozent des Schweizer Schienennetzes ab. Die Gesamtinvestitionen aller Schweizer Bahnen in barrierefreie Fahrzeuge betragen rund 138 Millionen Euro.

Versicherung als Ausrede

Wieder mal steht eine Bahnfahrt an. Diesmal weniger spontan: Zwei Tage vorher melde ich mich an. Direkt am Bahnhof, um nicht Ewigkeiten in der Warteschleife der Bezahl-Hotline des Mobilitätsservice zu hängen. Am Schalter schildere ich mein Anliegen: Zielbahnhof Marburg an der Lahn, Start in Memmingen. Umstiege in Ulm und Frankfurt. Der Herr am Schalter druckt ein Formular aus. Der Mobilitätsservice hat viele Fragen: E-Mail-Adresse? Telefonnummer? Natürlich müssen alle Umstiege, der Start- und der Zielbahnhof angegeben werden. Außerdem: „Sind sie Rollstuhlfahrer?“ Ja. „Ist der Rollstuhl faltbar?“ Nein. „Ist es ein Elektrorollstuhl?“ Ebenfalls nein. Dann: In Ulm sei wenig Zeit zum umsteigen, er wisse nicht, ob das ausreiche. An jedem Bahnhof gebe es eine eigens berechnete Umstiegszeit für Menschen, die den Mobilitätsservice nutzen, erklärt der Herr am Schalter. Ist die Umstiegszeit zu knapp, könne man für nichts garantieren. Ich bestehe jedoch auf die gewählte Verbindung und hoffe, dass alles klappt. Einige Stunden später: Mein Handy klingelt, der Mobilitätsservice ruft an. Wie meine gewünschte Verbindung nochmal sei? Außerdem: In Ulm könne es knapp werden. Wofür am Schalter das Formular ausgefüllt wurde, ich weiß es nicht.

Spontaner Service? Eher nicht

Spontane Fahrten und ein komplizierter Mobilitätsservice sind bei der Deutschen Bahn nicht die einzigen Hürden: Ist zur gleichen Zeit neben mir ein zweiter Rollstuhlfahrer angemeldet und es steht nur eine Hebebühne zur Verfügung, muss ich umplanen. „Der angemeldete Kunde hat immer Vorrang. Dem, der sich als Zweites anmeldet, wird, sofern erforderlich, eine Alternative genannt“, sagt Engel-Kuhn, die Behindertenbeauftragte der Deutschen Bahn. Heißt: Ich muss eine Stunde früher oder später fahren. Spontanes und unabhängiges Reisen scheint nicht möglich zu sein, auch wenn Engel-Kuhn betont: „Hilfeleistungen sind in den Bahnhöfen, in denen Servicepersonal vor Ort ist, oft auch spontan möglich.“ Die Regel ist es nicht.

Wieso ich vom Schaffner eine Absage bekomme, wenn ich ihn um Hilfe bitte? Unsicherheit womöglich eine Ursache. Zu etwaigen Versicherungsproblemen sagt Engel-Kuhn: „Alle Mitarbeiter sind über eine Haftpflichtversicherung versichert.“ Die von den Schaffnern vorgeschobenen Versicherungsprobleme gibt es also nicht. Die Bahn steht in Sachen Barrierefreiheit nicht dort, wo man einen Konzern im Jahr 2014 erwartet, der von sich behauptet, er mache mobil. Zumal stufenlose Einstiege nicht nur einigen Rollstuhlfahrern zugutekommen würden. Auch Senioren oder Familien mit Kinderwagen würden davon profitieren. Nicht zuletzt weiß jeder, der einmal drei Wochen mit Krücken unterwegs war: Treppen steigen ist mühsam.

Ankunft am Bahnhof in Marburg. Nach knapp sechs Stunden Fahrt, inklusive einer Stunde Verspätung. Am Bahnsteig: Trotz frühzeitiger Anmeldung kein Mobilitätsservice. Die Hürde nehme ich mit der Hilfe freundlicher Mitfahrer. Ohne Hublift, ohne Mobilitätsservice und ohne versicherungsrechtliche Bedenken. Mit einem leichten Rollstuhl ist das möglich, einen Elektrorollstuhl kann man dagegen nicht so leicht heben. Im Falle eines Servicemangels, durch den sich die Ankunft am Zielbahnhof um mindestens eine Stunde verzögert, habe jeder Fahrgast Anspruch auf eine Entschädigung der Fernverkehrskarte, sagt Engel-Kuhn zur fehlenden Hilfe beim Aussteigen.

Ein Viertel des Fahrpreises werde erstattet. Stufen herunter hilft das keinem.

Zacharias Wittmann absolviert derzeit ein vierwöchiges Praktikum in der Politikredaktion der „Schwäbischen Zeitung“. Für die Seite Drei berichtet er von seinen Erfahrungen auf Reisen mit der Deutschen Bahn aus der Sicht eines Rollstuhlfahrers. Der 23-Jährige Memminger studiert in Marburg Soziologie und Politikwissenschaften. (sz)