StartseiteRegionalBaden-WürttembergDas Mammut-Glaubensfest

Gästebett

Das Mammut-Glaubensfest

Baden-Württemberg / Lesedauer: 6 min

Zum Evangelischen Kirchentag erwartet Stuttgart ab Mittwoch Hunderttausende Besucher
Veröffentlicht:01.06.2015, 18:47

Von:
Artikel teilen:

Einen wildfremden Menschen in die eigene Wohnung lassen und das Gästebett zur Verfügung stellen? Warum nicht, fragt Michael Ventzki. „Es ist doch schön, wenn man Leute von anderswo zu Besuch hat“, sagt der 56-Jährige. So viel weiß Ventzki: Die Person, die ab morgen bei ihm übernachtet, kommt aus Brandenburg. Viel mehr noch nicht.

Ventzki ist nicht allein. Zehntausend der etwa Hunderttausend Besucher des 35.Deutschen Evangelischen Kirchentags (DEKT) kommen privat im „Gräbele“ bei Menschen aus Stuttgart und Umgebung unter, die sie bisher nur per Telefon oder E-Mail kennen. Das Gräbele gehört zum Kirchentag wie die Gemeinschaftsunterkunft oder der Rucksack. Denn es geht ja um Begegnung: „Kirchentage bringen Menschen unterschiedlicher Positionen, Religionen und Weltanschauungen zusammen“, sagt Kirchentagspräsident Andreas Barner, im normalen Leben Chef bei Boehringer Ingelheim. Württembergs evangelischer Landesbischof Frank Otfried July verdichtet dies noch mal: „In der persönlichen Begegnung liegt die Kraft des Kirchentags.“

Warten auf das Arbeitsgericht

Damit die Menschen zu diesen vielen persönlichen Begegnungen im ganzen Stadtgebiet kommen, fahren Regionalzüge, S- und U-Bahnen sowie Buslinien in Stuttgart Sonderschichten. Oder: sollten sie. Denn es gibt Probleme. Zwar droht kein Warnstreik bei der Bahn, dafür aber ein Gerichtsbeschluss. Am heutigen Dienstag entscheidet das Arbeitsgericht über eine einstweilige Verfügung gegen den ab dem morgigen Mittwoch eigentlich gültigen Sonderfahrplan des NahverkehrsbetriebSSB. Der Betriebsrat hat Einwände: Manche Schichten seien zu lang, bei anderen fehle die Zeit für die Toilettenpause.

Kippt der Fahrplan, sähe es für die erwarteten täglich 140 000 Besucher schlecht aus – die 150 Sammelunterkünfte und die 200 Orte für die über 2500 Veranstaltungen sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Das Zentrum des Kirchentages ist eine sechs Fußballfelder große Zeltstadt in Bad Cannstatt, die gerade aufgebaut wird. Viele Veranstaltungen sind aber auf der anderen Neckarseite – in der Stuttgarter Innenstadt. Und viele Gemeinschaftsunterkünfte in Fellbach, etwas weiter westlich. Wer die Strecken mit dem Auto oder zu Fuß pendeln will, braucht selbst in der Ferienzeit viel Zeit und gute Nerven. Die Macher setzen auf Bus und Bahn.

René Neuhäuser wirkt nicht so, als ob man ihn leicht beeindrucken könnte. Als technischer Geschäftsführer der sechs Stuttgarter S-Bahnen braucht der Bahnmann ein dickes Fell. Immerhin fahren täglich 400000 Menschen zwischen Backnang und Herrenberg mit den sechs Linien, die sich unterm Stuttgarter Hauptbahnhof bündeln. Dort kann schon eine Gleisstörung oder ein Luftballon in der Oberleitung den ganzen Betrieb lahmlegen. Doch die Zahl von 1130 S-Bahn-Sonderzügen zum Kirchentag lässt auch ihn nicht kalt. In der Innenstadt sollen diese zeitweise in der kürzestmöglichen Taktfrequenz von zweieinhalb Minuten rollen, dazu stellt die Deutsche Bahn Sonder- und Ersatzzüge bereit. „Ich persönlich finde das sehr beeindruckend“, sagt Neuhäuser. Außerdem – Spartipp am Rande – soll das Baden-Württemberg-Ticket für DEKT-Gäste am Freitag bereits ab 0Uhr gelten. Das koste die Bahn bares Geld, sagt Neuhäuser.

Millionending Kirchentag

Apropos Geld: Davon soll möglichst auch einiges in der Stadt hängen bleiben. 18,3 Millionen Euro beträgt der Etat des Mammutereignisses, allein das Land steuert fünf Millionen Euro bei. Etwa 20 Millionen Euro sollen die Gäste aber laut „Stuttgarter Nachrichten“ auch in der Region lassen.

Eine gute Bilanz, zumal die letzten Gastgeber Hamburg (2013) und Dresden (2011) ebenfalls eine positive Bilanz zogen. Zudem ist Stuttgart kein Kirchentagsneuling: Es ist nach 1952, 1969 und 1999 das vierte Mal, dass das alle zwei Jahre stattfindende Fest in die Landeshauptstadt kommt. Und bereits zwei Jahre vorher reisen hauptamtliche Mitarbeiter an, die mit den Vorbereitungen beginnen. Hinter dem DEKT steht ein Verein in Fulda. Dort denkt man schon an 2017. Dann ist Berlin dran, und die Mitarbeiter aus Stuttgart ziehen im Juni dorthin weiter. Ein wenig ist das wie ein „Wanderzirkus“, sagt Geschäftsführer Constantin Knall. Besser als bei Ventzki kann man es als Stuttgart-Gast eigentlich nicht treffen: Vor dem Fenster spiegelt sich die Johanniskirche im Feuersee, eine selten romantische Postkartenidylle im Zentrum des zugebauten Stuttgarter Kessels. Die U-Bahn-Station ist nah, und selbst wenn die nicht fährt, ist die Innenstadt fußläufig erreichbar. Für Mittwochabend ein guter Tipp, denn da sollen sich zum Auftakt eine Viertelmillion Besucher im Zentrum tummeln. Der Abend der Begegnung steht unter dem Motto „Guck gscheid nâ“. Eine Einladung und Aufforderung, genauer hinzusehen. Und sich zu begegnen. Ein Stück Miteinander in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft, sagt Bischof July .

Auch Ventzki will vorbeischauen. Das ist normal: Viele der freiwilligen Helfer, allein am Mittwochabend sind es mehr als Zehntausend, verwandeln sich zwischendurch zu Besuchern. Die 1200 Bläser und 4000 Chormitglieder zum Beispiel, die um 22 Uhr auf neun Bühnen gleichzeitig den „Klang des Südens“ intonieren wollen – zusammen mit Hunderttausenden Besuchern. Der Klang des Südens soll ein Potpourri werden aus geistlichen und weltlichen Liedern, an denen evangelische, katholische und weltliche Chöre seit Wochen arbeiten und die teils neu arrangiert werden. So soll die „Schwäbsche Eisebahne“ in einem flotten Swing von Schtuegart nach Durlesbach dampfen. Nicht-Textfeste bekommen im Programmbuch die Zeilen mitgeliefert, denn es soll gesungen werden. Stuttgart hat immerhin einen Ruf zu verteidigen: den als Chorhauptstadt Deutschlands.

Eine Hochburg des Protestantismus ist die Schwabenmetropole aber schon längst nicht mehr, trotz Bibelgesellschaft und zugehörigem Bibelmuseum. Nur noch etwas mehr als ein Viertel der Stuttgarter ist evangelisch. Doch die Vielzahl der Strömungen im Südwesten ist geblieben: „Manchmal sind die Frömmigkeitsstile in den Regionen unterschiedlich“, umschreibt es July.

Vor allem der Pietismus ist stark geblieben in der Region – weshalb auch der pietistische Christustag in den Kirchentag eingebunden ist.

275 Gruppen treten auf

Es ist unmöglich, hier alles aufzuzählen, was allein das Straßenfest am ersten Abend bietet. Nach den drei Eröffnungsgottesdiensten um 19 Uhr (auf dem Schlossplatz wird auch Bundespräsident Joachim Gauck erwartet) präsentiert sich Baden-Württemberg als Verbund starker Regionen: Die Ostalb steht auf der Marienstraße, Donau-Alb auf der Königstraße, Bodensee-Oberschwaben nebenan auf dem Kronprinzplatz. Es gibt neun Bühnen, 275Gruppen und 242 Verpflegungsstände, allein die verlegten Stromkabel kommen auf 230 Kilometer. Nach dem Klang des Südens soll ein Lichtermeer aus 150 000 Kerzen den Abendsegen illuminieren. Und bereits um 0:30 Uhr soll alles wieder abgebaut sein.

Bäume und Bahnhofsgegner

Das Stadtbild ist geprägt von roten Fahnen. Rot ist die Farbe des diesjährigen Kirchentags. Auf dem Cannstatter Zeltplatz nahe dem Stadion von Nichtabsteiger VfBStuttgart pinseln Freiwillige sieben exakt 4,99 Meter große Erkenntnisbäume aus Holz an, an denen sich später Menschen treffen sollen. Und da der Kirchentag in Stuttgart ist, haben auch die „Theologinnen und Theologen gegen Stuttgart 21“ für Samstag bereits eine Demo vor dem zu verbuddelnden Hauptbahnhof angekündigt.

Im Alltag hat Michael Ventzki wenig mit Kirche zu tun. Aber Freunde hat er gerne daheim. „Vielleicht kommen noch einige mehr zu Besuch“, sagt er. Freuen würde es ihn. Es gibt zwar nur ein Gästebett. Doch für Schlafsäcke und Begegnungen ist immer noch Raum.

Mehr Informationen zum Kirchentag im Internet unter

schwaebische.de/kirchentag