Transsexuell

Aus Gerhard wird Sarah

Baden-Württemberg / Lesedauer: 11 min

Fast 50 Jahre hat es gedauert, bis Sarah den Mut fand, ihren männlichen Körper dem anzupassen, was sie in ihrem Bewusstsein und ihrer Persönlichkeit schon immer war: eine Frau nä...
Veröffentlicht:07.11.2017, 19:54

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Hinten im Baumarkt, gleich um die Ecke beim Befestigungsmaterial, wo die Seile auf großen Rollen lagern, misst sich Gerhard ein paar Meter ab. Gerhard nimmt den Strick und geht mit ihm zur Kasse. Gerhard bezahlt das eng geflochtene Stück Seil, wickelt es feinsäuberlich zusammen und verlässt den Baumarkt. Seine Hände zittern. Sein Herz rast.

An dieser Stelle könnte die Geschichte von Gerhard schon fast zu Ende sein. Genauer gesagt, wenig später am Ast eines wunderbar erblühten Kirschbaums, den sich Gerhard bereits mit Sorgfalt ausgesucht hatte. So wie Gerhard alles mit Sorgfalt macht. Zu diesem Zeitpunkt ist Gerhard Mitte 40, erfolgreiche Unternehmerin, verheiratet. Unternehmerin? Exakt, denn das Besondere an Gerhard ist: Gerhard ist eine Frau. Ganz egal, was Gerhards Körper den Menschen in seiner Umgebung signalisiert. Ganz gleich, was unter dem Passbild im Ausweis für ein Name steht.

Männliche Karriere

Dass es nicht so ist, dass Gerhard nicht nur keine Frau ist, sondern als der tollste Prachtkerl unter den Männern erscheint, hat sich Gerhard selbst über Jahrzehnte hinweg zu beweisen versucht. Um nicht aufzufallen als Frau unter Männern, im Körper eines Mannes. Sie war bei der Bundeswehr . Sie hat sich geprügelt. Das Alphatier heraushängen lassen. An das Auto hat Gerhard die maskulinsten Auspuffrohre, die für Geld zu haben sind, montiert. Die breitesten Schlappen auf die Felgen gezogen. Und Hanna geheiratet. Allerdings nicht, um die Realität seiner eigenen Weiblichkeit endgültig auszulöschen, sondern schlicht: aus Liebe.

Genützt hat das alles nichts. Das mit dem Frausein – so sehr sich Gerhard das über die Jahre gewünscht, so rücksichtslos er gegen sich selbst gekämpft hat –das Frausein ist nicht weggegangen. Wie sollte es auch? Der niederländische Neurobiologe am Amsterdamer Institut für Hirnforschung, Dick Swaab , hat bereits 1995 im renommierten Wissenschaftsmagazin „Science“ einen Artikel über seine Forschungen veröffentlicht: An sechs verstorbenen Transsexuellen, geboren in männlichen Körpern, hat Swaab Nervenknötchen in der Gehirnregion Hypothalamus nachgewiesen, die typisch für Frauengehirne sind.

Wenn das auch noch kein anerkannter Beweis ist, so hat sich dieser Umstand doch zumindest in der modernen Neurowissenschaft gefestigt und ist damit ein starkes Indiz dafür, dass die Geschlechterzuordnung nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren stattfindet. Aufseiten der Psychologie und der Soziologie gibt es indes noch immer viele Stimmen, die Transsexualität eher als psychische Störung denn als körperliches Faktum betrachten.

Politik kommt nicht entgegen

Die Welt, in der Gerhard zu diesem Zeitpunkt lebt, nimmt die Forschungsergebnisse von Neurobiologen allergrößtenteils nicht zur Kenntnis. Auch die Politik nicht, die an einem Transsexuellengesetz festhält, das Menschen wie Gerhard als psychisch Kranke stigmatisiert. Als verrückte Freaks, als ausgeflippte Sonderlinge. Und darum liegt das Seil jetzt auf dem Beifahrersitz, während Gerhard, äußerlich ein „Brocken von Kerl“, weinend am Steuer des Wagens sitzt. „Klappe ich das Buch endgültig zu, oder schlage ich eine neue Seite auf?“, fragt sich Gerhard in den Nebelschleier der Tränen hinein.

Am Ende hat sich Sarah, die heute auch auf dem Papier nicht mehr Gerhard heißt, dazu entschlossen, eine neue Seite aufzuschlagen. „Weglaufen war noch nie meine Art“, sagt die 50-Jährige, die sich auch heute noch die Tränen abwischen muss, wenn sie an diese Zeit denkt. Umblättern heißt aber nicht, dass ein Mensch damit zum unbeschriebenen und weißen Blatt werden kann. Ganz im Gegenteil. Sarahs Gegenwart ist nicht nur die einer gepflegten, intelligenten und selbstbewussten Frau.

Aus jeder ihrer Gesten, aus jeder ihrer Bewegungen schimmert auch ein Stück dieses langen und harten Weges durch, den sie fast 50 Jahre lang gegangen ist, bis sie schließlich vor ein paar Monaten erst körperlich angekommen ist im eigenen, im weiblichen Ich. Besiegelt durch geschlechtsangleichende Operationen. Aber wehe, es benutzt jemand in ihrer Gegenwart das Wort „Geschlechtsumwandlung“. Dann lässt Sarah den Kampfgeist auflodern, der sie am Ende dorthin gebracht hat, wo sie heute steht: „Umwandeln ist was für Zauberer und Magier. Ich war niemals ein Mann. Ich war immer schon eine Frau. Der Körper wird angepasst, denn das Geschlecht eines Menschen ist nicht änderbar“, sagt Sarah und schlägt selbstbewusst die Beine übereinander und zieht mit den Fingern den Saum ihres schwarzen Kleides über die Knie.

Spuren von Gerhard noch sichtbar

Trotz der Operationen, trotz des dezenten Make-ups, trotz des Schmucks – die Spuren von Gerhard, den Sarah früher zu spielen gezwungen war, wie sie sagt, sind auch heute noch sichtbar. Sein zu dürfen, was man immer schon war, und auch so auszusehen, ist kein Weg für Feiglinge. Vollkommen egal, ob man der Denkweise der 1980er-Jahre anhängt und Transsexualität für eine Krankheit, den Anflug einer psychischen Laune oder was auch immer hält. „Auf diesem Weg hat man versucht, mir die Würde zu nehmen. Man hat mich erniedrigt und gedemütigt. Staatlich legitimierte Diskriminierung“, sagt Sarah und geht in Gedanken wieder einige Jahre zurück. An den Scheideweg, als sie gerade erst den Strick hinter sich gelassen hatte.

Es beginnt an Silvester 2013, als Sarah, die damals auch für Hanna noch Gerhard war, anfängt, sich körperlich zu verändern. „Sie hat abgenommen“, erinnert sich Hanna, die Ehefrau von Sarah, die auch schon mit Gerhard verheiratet war. Man sieht der Frau an, dass diese Zeit der äußerlichen Verwandlung sie als Ehefrau, die einmal überzeugt war, vor mehr als 20 Jahren einen Mann geheiratet zu haben, viel Kraft gekostet hat. Ihre Stimme klingt dünn und wird erst nach und nach fester: „Ich habe erst vor eineinhalb Jahren davon erfahren“, sagt Hanna.

Pläne verschwiegen

Lange hat Sarah ihren Plan, sich zu outen und dann auch körperlich zur Frau zu werden, für sich behalten. Aus Angst, Hanna und überhaupt alles zu verlieren. Nach der Offenbarung von Sarah war Hanna wie in Trance, zumal sie selbst in ihrem konservativen Weltbild wenig Platz für den Gedanken an Transsexualität hatte. Und nun der eigene Mann? „Ich habe es erst richtig geglaubt, als mir der Psychologe die Augen geöffnet hat“, erinnert sich Hanna. Nicht nur das Leben von Sarah hat sich durch ihre äußerliche Frauwerdung radikal verändert, sondern auch jenes von Hanna, die sich durch ihr Bekenntnis zu Sarah schon hat fragen lassen müssen, ob sie nun lesbisch geworden sei. „Als bestünde eine Ehe allein daraus“, sagt Sarah und kämpft wieder mit den Tränen.

Wenn sich ein Mensch dazu entschließt, seinen Geschlechtskörper dem anzupassen, was er im eigenen Bewusstsein ist und fühlt, steht er neben juristischen und finanziellen auch vor medizinischen Herausforderungen. Allein um die Änderung des Vornamens sowie des Geschlechtseintrags in den Ausweisen durchzusetzen, muss die oder der Betroffene hohe Hürden nehmen. „Zunächst gibt es eine Anhörung vor einem Gericht“, sagt Sarah. Grundlage für eine Entscheidung sind zwei gerichtlich angeordnete psychiatrische Gutachten, wobei die betroffene Person diese Gutachter vorschlagen darf. Im konkreten Fall hat die Richterin die Vorschläge von Sarah, die auf Wunsch ihrer Ehefrau Hanna bereits einen Psychologen konsultiert hatte, abgelehnt. Schlimmer noch. Sarah berichtet, wie herablassend die Richterin sie behandelt habe: „Wir müssen schon genau nachfragen, denn Sie werden den Staat und die Gesellschaft viel Geld kosten“, hallt es noch heute im Kopf von Sarah wider, wenn sie daran denkt. Das habe aber erst recht ihren Widerstandsgeist geweckt, zumal Sarah durch ihr eigenes Unternehmen finanziell in der Lage war, sämtliche Lasten selbst zu tragen.

Um bei der Krankenkasse schließlich die Bewilligung für eine geschlechtsanpassende Operation zu bekommen, sind 18 Monate Psychotherapie vorgeschrieben. Oder in den Worten von Sarah: „Man geht davon aus, dass Sie verrückt sind und ein Psychiater Sie davon abbringen kann.“ Studien zeigen aus Sicht von Sarah, wie weltfremd und beschämend dieser Ansatz ist. Denn die Quote derer, die sich durch diese 18 Monate von ihrem Ziel abbringen lassen, liege unter einem Prozent. Umso erschreckender sei eine andere Zahl, die sich aus Schätzungen von Wissenschaftlern offenbart: nämlich dass sich rund 30 Prozent der transsexuellen Menschen aufgrund der widrigen Umstände ihrer Existenz das Leben nehmen.

Entwürdigung, Demütigung

Der Gipfel von Entwürdigung und Demütigung ist für Sarah aber der Umstand, dass sich Transsexuelle vor medizinischen Maßnahmen wie Hormontherapie oder Operation im Alltagstest als Frau oder Mann bewähren müssen. „Sie werden gezwungen, sich wie eine Frau zu kleiden und zu geben, während ihnen noch der Bart im Gesicht steht“, sagt Sarah und ihre Stimme bebt dabei. Dann lacht sie bitter: „In der Vorstellung von manchen Psychologen am besten in Minirock und High Heels.“ Als sei dieser Kleidungsstil typisch und natürlich für sämtliche Frauen und nicht bloß das schwitzige Klischee in den Köpfen mancher älterer Herren.

Spätestens an diesem Punkt, so schildert es Sarah, verlören die meisten der Betroffenen ihren Arbeitsplatz, weil Chefs nicht damit klarkämen, den Kollegen oder Kunden eine Angestellte, die gerade noch Martin geheißen hat, nun als Martina vorzusetzen – vollkommen in der Hülle eines Mannes – und gezwungen, sich ohne Hormonbehandlung oder Operation äußerlich wie eine Frau zu geben. Eine Reihe von europäischen Ländern macht es Menschen wie Sarah deutlich leichter. Etwa der Nachbar Österreich. Dort genügt die Einschätzung eines Psychologen, damit ein Standesamt die Namens- und Personenstandsänderung ohne viel Brimborium vollzieht, wie ein Beamter aus Vorarlberg auf Nachfrage mitteilt.

Sarah und Hanna sind stark. Sie hatten das nötige Geld, um diesen Weg konsequent zu gehen. Und sie hatten einander. Und die Mittel, wenn nötig auch Anwälte einzubeziehen. Das ist auch der Grund, warum ihr behördlicher und medizinischer Spießrutenlauf im Vergleich verhältnismäßig kurz war.

Wie viele Transsexuelle gibt es?

Aber was ist mit all den anderen, die weder das nötige Geld noch die psychische Stärke besitzen, das alles durchzustehen? Verlässliche Zahlen über Transsexualität gibt es nicht. Es existieren Schätzungen, wonach 0,6 bis 1,7 Prozent der Menschen in Deutschland eine transsexuelle Prävalenz besitzen. Ob sich die Mehrzahl aus der Deckung wagt, um ihr eigenes Ich in der Einheit von Körper und Persönlichkeit so zu leben wie Sarah?

Oder bleiben die meisten Betroffenen ihr Leben lang in einer unglücklichen Rolle gefangen, die sie nicht ausfüllen können? An der sie scheitern müssen, wie ein Schauspieler, der weder seinen Text beherrscht noch ein Talent hat für permanente Verstellung? Und ist in dem Zusammenhang die Frage nach der Ursache überhaupt so wichtig, ob und warum im Gehirn offenbar ein anderes Geschlecht hinterlegt sein kann, als der physische Körper zeigt? Gemäß neuester Zahlen des Bundesamtes für Justiz haben 1868 Menschen im Jahr 2016 eine Personenstands- oder Vornamenänderung nach dem Transsexuellengesetz vornehmen lassen. Das sind 220 mehr als noch im Jahr 2015 und dokumentiert damit die steigende Zahl derer, die sich inzwischen doch aus der Deckung wagen.

„Es gibt in der Bevölkerung einen Bodensatz von fünf bis sechs Prozent, die transsexuellen Menschen feindlich gegenüberstehen“, sagt Sarah. Damit ist auch erklärt, warum Namen und persönliche Umstände der Menschen in dieser Geschichte von der Realität abweichen. Zum Schutz der beiden Frauen, die keine Kinder haben.

Ehegeschichte nicht zu Ende

Auch wenn Sarah und Hanna den Übergang von der klassischen Ehe in die gleichgeschlechtliche inzwischen hinter sich haben, ist die Geschichte der beiden noch nicht zu Ende erzählt. Denn was Sarah seit ihrem vierten Lebensjahr weiß, als sie erlebt hat, wie man versuchte, ihr das Mädchen auszutreiben, ist für Hanna eine Neuigkeit, die zu verdauen viel Zeit braucht. Sie werde oft gefragt, wie es ihr mit dieser Situation ergeht, und Hanna sagt dann immer: „Ich kämpfe. Ich kämpfe jeden Tag. Manche Tage sind leichter, andere sind schwerer. Aber Sarah hat mir versprochen, dass in Zukunft alles noch besser wird, als es schon war, weil sie jetzt endlich ihren Ballast abgeworfen hat und sie selbst sein kann – und nach 25 Jahren habe ich das Vertrauen, dass dieses Versprechen eingelöst wird.“ Und sei es nicht ein ur-konservativer Wert, am Eheversprechen festzuhalten, egal was immer auch geschehen mag, „in guten wie in schlechten Zeiten?“, fragt Hanna mit einem Blick, der zu einem fernen Punkt zu gehen scheint, den nur sie sehen kann.

Den Strick von damals aus dem Baumarkt hat Sarah längst aus dem Haus geschafft. Und auch an den Kirschbaum denkt sie nur noch selten.