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Touristenkamera

Vor der WM in Brasilien: Der Erlöser blickt auf Rio

Rop de Janeiro / Lesedauer: 8 min

Seit mehr als 80 Jahren breitet Cristo Redentor seine Arme über der brasilianischen Stadt aus – für die Fußball-WM und Olympischen Spiele wurde er auf Hochglanz poliert
Veröffentlicht:20.04.2014, 18:25

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Am Tag, als der Regenbogen kam, ging Márcia Braga vor Christus auf die Knie. Die Japaner lagen ihm bereits alle zu Füßen. Die Touristenkameras waren gezückt, um den kreisrunden Regenbogen exakt so aufs Bild zu bekommen, dass es so aussieht, als würde ein bunter Heiligenschein über dem Kopf der Christusfigur leuchten. „Da bin sogar ich vom Gerüst gestiegen, um das zu fotografieren“, sagt Márcia Braga. Die Architektin und Restauratorin sanierte Rio de Janeiros bekanntestes Wahrzeichen, den Cristo Redentor, Christus den Erlöser, auf dem Corcovado.

Wetterphänomene wie der kreisrunde Regenbogen sind hier oben so beeindruckend, wie der 360-Grad-Blick über die Stadt gigantisch ist. Deshalb gibt es unter Rios Bewohnern, den Cariocas, auch den zuverlässigen Tipp: „Willst du wissen, wie das Wetter wird, schau zum Christus rauf.“ Mal brennt ihm die Sonne bei mehr als 40 Grad aufs Haupt, dann ziehen plötzlich Wolken auf und verschlucken das Monument, bis absolut nichts mehr von ihm zu sehen ist. Ein andermal wieder peitschen Regen und Wind mit bis zu 200 Stundenkilometern über den Corcovado. Das alles setzte der exponierten Figur im Laufe der Zeit so zu, dass vor ein paar Jahren eine Komplettsanierung fällig war. Schließlich stehen Rio de Janeiro bald zwei Großereignisse bevor: die Fußball-WM in diesem Jahr und die Olympischen Spiele 2016. Dann blickt die Welt auf diese Stadt und natürlich auch auf ihre berühmteste Sehenswürdigkeit.

Enger Zeitplan

Am Tag, als der verheerende Regen kam, es war Dienstag, der 6. April 2010, war die Christusstatue bereits eingerüstet. Als es nicht mehr aufhören wollte zu regnen, begann die Erde von den umliegenden Bergen zu rutschen. Mit sich riss sie die an den Hügeln eng aneinandergeschachtelten Häuser der Favelas und begrub mehr als 100 Menschen. Umgestürzte Bäume und abgegangene Geröll- und Gesteinsmassen blockierten lange Zeit auch die Zufahrt zum Corcovado. Bis Ende Juni sollte Márcia mit der Restaurierung fertig sein, so wollte es ihr Auftraggeber, die Erzdiözese von Rio de Janeiro. An dem Termin war, Jahrhundert-Regen hin oder her, nicht zu rütteln.

Die Restauratorin blieb gelassen und hat die Kirche wissen lassen: „Fertigstellung Ende Juni. Kein Problem. Wenn ihr einen Vertrag mit dem Heiligen Petrus im Himmel gemacht habt.“ Den wird die Erzdiözese gewiss nicht vorweisen können, aber die Rechte an der Christusfigur besitzt sie in der Tat. Heitor da Silva Costa hatte sie der Kirche übertragen, die ihn einst mit der Planung der Skulptur beauftragt hatte. Soweit sich Márcia erinnert, war es nun die vierte Restaurierung seit der Einweihung der Skulptur 1931. Bereits vor vielen Jahren hatte sie den Sockelbereich und die Balustraden wieder hergerichtet. Daraufhin hat das Amt für Denkmalschutz die Architektin bei der Erzdiözese für die Komplettsanierung der Christusfigur empfohlen.

Längst ist der Christus von Rio eines der bekanntesten Wahrzeichen der Welt. 2007 wurde es unter die Weltwunder der Neuzeit gewählt. Was für ein Privileg also, so einen Auftrag zu bekommen, der auf umgerechnet drei Millionen Euro angesetzt war, finanziert durch Spenden und Sponsorengelder. „Na ja“, sagt Márcia, „wenn ich das hier verbockt hätte, hätte ich meinen Job an den Nagel hängen und für immer das Land verlassen können.“

Personifikation des Kreuzes

Seit mehr als 80 Jahren blickt Christus unentwegt auf diese Stadt, was sollte er auch anderes tun. Mit dem gesenktem Haupt hat ihm sein Erbauer nur die Möglichkeit gelassen, den Blick auf die Menschen von Rio de Janeiro zu richten, schließlich war Erlösung ja das zentrale Thema. Die Statue sollte, schon von weitem sichtbar, eine religiöse Symbolik haben. So entstand der Christus mit den weit geöffneten Armen als Personifikation des Kreuzes.

Die 1145 Tonnen schwere, größte Art-déco-Skulptur der Welt galt damals als Meisterwerk der Ingenieurskunst. Aus Stahlbeton gebaut, misst sie ohne Sockel 30 Meter, 28Meter beträgt die Spannweite der Arme, allein eine Hand misst drei Meter. Eine Skulptur aus nacktem Beton war dem Baumeister jedoch zu hässlich. Mit der üblichen Bronze wollte er seine Figur aber auch nicht überziehen, als er erfuhr, dass dafür eingeschmolzenes Waffenmaterial herhalten sollte. Inspiriert von einem Springbrunnen aus Mosaiken, kam dann die Idee auf, brasilianischen Speckstein in kleine, dreieckige Plättchen zu schneiden und den Christus damit überziehen zu lassen. Ein leicht zu bearbeitendes Material, versichert die Restauratorin heute, aber vor allem ein sehr wetterfestes.

Helle Sandstrände, smaragdgrünes Wasser

Ihre Schönheit verdankt Rio de Janeiro vor allem der einzigartigen Lage. Und die erfasst man am besten von ganz oben, eben vom Corcovado aus: perfekt geschwungene Sichelbuchten mit hellen Sandstränden, von smaragdgrünem Wasser umspült, dazwischen grüne Hügel, von Regenwald überwuchert, und ein Häusermeer aus Weiß und Schwarz. Die weiß gekalkten Häuser der Reichen sind deutlich von den dunklen, eternitgrauen Häusern der Slums zu unterscheiden, die hier Favelas heißen.

Um den Besuchern der WM und der Olympischen Spiele Sicherheit zu signalisieren und auch, um den Ruf als eine der gefährlichsten Städte der Welt endlich loszuwerden, entstanden drei Meter hohe und 14 Kilometer lange Mauern, die etwa ein Dutzend der fast 1000 Favelas der Stadt abriegeln sollen. Keine Diskriminierung, beschwichtigt die Stadtregierung, sondern eine Art Öko-Begrenzung sei dies, damit die Favelas nicht in den einzigartigen Stadtregenwald ausuferten.

Nicht alle schaffen den Sprung über solche Mauern hinüber in die andere Welt der feinen, weißen Häuser, so wie Gilson Martins, der heute eine exquisite Boutique im Stadtviertel von Ipanema betreibt. Gilson Martins wuchs in einem der vielen Armenviertel der Stadt auf. Ganz weit oben auf den Hügeln über der Stadt hatte er einen zauberhaften Ausblick. Und weil er dieses schöne Stadtpanorama so mochte, fing er an, aus bunten Plastikresten Taschen in der geschwungenen Form des Zuckerhutes mit dem Corcovado und der Christusfigur drauf zu nähen und sie unten am Strand an Touristen zu verkaufen. Seine sogenannten Sculpture-Bags wurden zu seinem Markenzeichen – sogar das Museum of Modern Art in New York verkauft sie.

Das Ende einer Mär

Unten in Ipanema ist auch Márcia Braga zu Hause, in einer Altbauwohnung, gleich hinterm Eingang des Hauses wacht ein Concierge, zum Innenhof öffnet sich ein begrünter Garten. Am Abend hat die Restauratorin prominenten Besuch: Maria Izabel Seabra de Noronha, kurz Bel Noronha genannt. Sie ist die Urenkelin des Konstrukteurs und Erbauers der Christusfigur. Doch erst als ihre Familie zur offiziellen Feier anlässlich des 50. Jahrestages des Monuments eingeladen war, habe sie überhaupt davon erfahren, was sie mit dem Erlöser vom Corcovado verbindet. Bis dato hielt sich die Mär, die Figur sei ein Geschenk Frankreichs anlässlich der Unabhängigkeitsfeier Brasiliens gewesen und deshalb auch von einem Franzosen entworfen worden.

„Typisch, diese Kolonialmentalität“, sagt Márcia. „Uns Brasilianern mangelt es noch immer an Selbstwertgefühl. Wenn etwas großartig ist, denken die Leute hier, das muss ja aus dem Ausland kommen.“ Bel nickt. Fünf Jahre hat sie gebraucht, bis sie alle Verträge und Pläne aus den Archiven zusammengetragen hatte, um zu belegen, dass dem nicht so ist. Die 45-Jährige ist Dokumentarfilmerin, und natürlich hat sie inzwischen zahlreiche Filme und Ausstellungen vor allem einem gewidmet: der Erlöserstatue vom Corcovado. „Den Kopf und die Hände hat mein Urgroßvater tatsächlich in Paris bei dem Bildhauer Paul Landowski in Auftrag gegeben. Das ist aber die einzige Verbindung, die es nach Frankreich gibt.“ Kopf und Hände wurden in mehr als 50 Teile zerlegt, nach Rio verschifft und auf dem Corcovado zusammenmontiert. Im Film sieht man in alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen auch, wie die Menschen mit Bettlaken durch die Straßen gehen, um Geld für die Christusfigur zu sammeln, das ihnen manche Leute direkt aus dem Fenster ins aufgehaltene Laken warfen.

Während ihrer Schönheitskorrekturen am Christus ersetzte Márcia verwitterte Mosaiksteine und versuchte den richtigen Farbton zu treffen. Wirkt der Christus aus der Ferne fast weiß, sind die einzelnen Specksteine aus nächster Nähe betrachtet von unterschiedlich graugrüner Maserung. In Bels Film sind zwei Brüder zu sehen, wie sie mit Lappen und Wassereimer aus der Armluke der Figur klettern, um sie zu reinigen. Ohne Gerüst und ohne jegliche Sicherung laufen die beiden selbstsicher über die ausgestreckten Arme und steigen dem Christus anschließend auch noch auf dem Kopf herum. „Ihnen ist hier oben nie etwas passiert“, sagt Márcia ganz selbstverständlich. Auch wenn sie zugeben muss, dass sogar ihr beim Anblick der brüderlichen Kletteraktion jedes Mal wieder schwindlig wird.