Es ist so sicher wie das Geläut der Big-Ben-Uhr zu jeder vollen Stunde: Wann immer der britische Premier David Cameron seine umstrittene Sparpolitik erklärt, darf man das Wort „Gerechtigkeit“ erwarten. So begründete der Tory-Vorsitzende in der Zeitung Sun die Sozialhilfereform mit der moralischen Pflicht, die „Gerechtigkeit zurück ins Herz Großbritanniens zu verpflanzen“. Seine Regierung baue ein besseres Land „für diejenigen, die hart arbeiten und besser leben wollen“, schrieb der Koalitionschef unverblümt. Das bedeutete wohl, dass die Arbeitslosen und sozial Schwachen in Großbritannien auf den Sieg der Labour-Opposition bei der Wahl 2015 hoffen müssen.
Noch vor fünf Jahren fehlte der Begriff „Fairness“ vollständig im Vokabular der Konservativen. Heute wird es meist zur Rechtfertigung von unpopulären Maßnahmen genutzt, mit denen sich Geld sparen lässt. Aktuell will die Regierung den Sozialstaat stutzen und all die angeblichen Faulpelze und Simulanten bestrafen, die in harten Zeiten nichts zum Wachstum des Bruttoinlandsproduktes beitragen. Mietzuschüsse, Kindergeld, Behindertenrenten – all das wird gekürzt, während von Herbst an die verschiedenen Sozialhilfebeiträge durch eine einheitliche Zahlung ersetzt werden. Camerons Antwort an alle Kritiker und Skeptiker: „Wie kann es fair sein, einen grenzenlosen Wohlfahrtsstaat zu haben?“
Seine Gegner werfen ihm vor, die Kluft zwischen Arm und Reich zu vertiefen. Nach einer Schätzung der Nichtregierungsorganisation Oxfam ist derzeit eine halbe Million Briten auf die Suppenküchen der Kirche angewiesen. Vor zwei Jahren sollen es lediglich 60000 Menschen gewesen sein. Sechs Millionen Haushalte sind so arm, dass sie im Winter ihre Wohnungen gar nicht oder nur wenig heizen können. Nach einer Schätzung wird Camerons Reform der Sozialhilfe neun von zehn britische Arbeitslose treffen, die im Schnitt 300 Euro pro Jahr verlieren sollen.
Andere Kritiker der Regierung warnen vor einer sozialen Spaltung der Nation entlang der Ost-West-Achse als Folge der Koalitionspolitik. Während im Südosten der Insel ein verhaltener Aufschwung eingesetzt hat, häufen sich im strukturschwachen Norden die Probleme. Nach neuen Schätzungen leben 47Prozent der Kinder in der Stadtmitte von Manchester unterhalb der Armutsgrenze. Im Londoner Stadtteil Wimbledon sind es nur sechs Prozent.
Dennoch ist Großbritannien in den vergangenen Jahrzehnten ein gutes Stück auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft vorangekommen. Das zeigte 2010 die umfangreichste Untersuchung, die es je zu diesem Thema im Königreich gegeben hat. In der Studie bescheinigte die unabhängige Kommission für Gleichberechtigung und Menschenrechte (EHRC) dem Land sehr große Fortschritte bei der Schulbildung, Toleranz von Homosexuellen und der Integration der Einwanderer verschiedener Kulturen und Konfessionen.