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Örtchen

Die Schweiz zeigt unerbittliche Härte gegen Raser

Bern / Lesedauer: 6 min

Seit 1. Januar warten auf Verkehrs-Chaoten heftige Strafen – Gefängnis und Enteignung gehören dazu
Veröffentlicht:24.01.2013, 23:00

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Angefangen hat alles mit Carina R.: Als das 15-jährige Mädchen am 13. August 2003 mit ihrem Fahrrad über die Dorfkreuzung im Örtchen Mumpf im Schweizer Kanton Aargau fährt, ist der heranpreschende Porsche schon zu hören.

Und obwohl das Kind die andere Straßenseite beinahe schon erreicht hat, erfasst es der Sportwagen noch. Eine Frage von Zentimetern. Die Wucht des Aufpralls schleudert das Mädchen gegen ein Verkehrsschild. Der Porsche hat zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes eine Geschwindigkeit von 135 km/h auf dem Tacho. Erlaubt sind 50 km/h. Carina R. ist sofort tot.

Die Resonanz in den Schweizer Medien ist gewaltig. Und sie setzt einen Prozess in Gang, ein gesellschaftliches Umdenken: weg von einer liberalen Haltung, die das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit zum Kavaliersdelikt verniedlicht – hin zu mehr Härte im Umgang mit Rasern. Die Empörung erreicht ihren Höhepunkt, als der Porschefahrer nach dem langjährigen juristischen Nachspiel mit einer Strafe von umgerechnet 1600 Euro davonkommt und einer zweijährigen Haftstrafe. Ausgesetzt zur Bewährung.

Ein Unfall verändert alles

Die Raser bleiben in den Schlagzeilen und Berichte über illegale Rennen, über weitere spektakuläre Unfälle mit Toten verschaffen der schweizerischen Vereinigung Road Cross, die sich für Opfer im Straßenverkehr stark macht, immer mehr Zulauf. „Die Gesetzgebung war lückenhaft. Wenn es zu einem Unfall kam, dann wurden die Täter in aller Regel wegen grober Fahrlässigkeit zu bedingten Strafen verurteilt“, sagt Silvan Granig, Sprecher von Road Cross Schweiz . Das Resultat seien stets milde Strafen gewesen. „Auch wenn sie massiv zu schnell waren – ohne Unfall, haben sie halt eine Buße bekommen und sind dann wieder weitergefahren.“

Und dann kam der Unfall von Schönenwerd im Kanton Solothurn – und der veränderte alles: Am 8. November 2008 rasen bei dichtem Nebel drei junge Männer, die sich ein Rennen liefern, in ihren Autos in den Ort. An einer Kreuzung rammt der Raser an der Spitze ein Fahrzeug, in dem drei Menschen sitzen. Lorena W. ist 21 Jahre alt, als sie auf dem Rücksitz stirbt. Wieder sind die Strafen für die Angeklagten, die in den Medien nur noch „Totraser“ genannt werden, zunächst milde. „Ab diesem Zeitpunkt haben wir uns für schärfere Gesetze stark gemacht“, erinnert sich Silvan Granig . 2010 lanciert Road Cross eine Volksinitiative mit dem Titel „Schutz vor Rasern“. Doch eine Volksabstimmung braucht es gar nicht mehr – der Bundesrat beschließt die Eckpunkte der Initiative praktisch eins zu eins im Paket „Via Sicura“.

Auch weil die Politik aus Umfragen weiß, dass die Bevölkerung fast geschlossen hinter den verschärften Gesetzen steht. Diese sehen dramatische Strafen vor und sie definieren erstmals, ab welcher Geschwindigkeit jemand als Raser gilt: Wer bei erlaubten 30 km/h mindestens 70 fährt, der rast. Wer bei erlaubten 50 km/h mindestens 100 fährt, auch. Außerorts beginnt bei einer gestatteten Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h das Rasen bei 140. Auf der Autobahn, wo in der Schweiz 120 km/h erlaubt sind, muss der Autofahrer mindestens 200 auf dem Tacho haben, um ein Raser zu sein.

Seit 1. Januar hat diese Definition Gesetzeskraft – ebenso der harte Strafrahmen, der in Europa seinesgleichen sucht: Wer rast, der verliert seinen Führerschein für mindestens zwei Jahre. Wiederholungstäter bekommen sogar lebenslänglich, zumindest was den Entzug des Führerscheins angeht. Erst nach zehn Jahren dürfen solche bis dato Unverbesserlichen wieder einen Antrag auf Fahrerlaubnis stellen – unter massiven Hürden. Außerdem ist der Gang vor den Richter obligatorisch. Und der hat bei der Verkündung des Urteils beim Tatbestand des Rasens nur noch einen kleinen Spielraum: Und zwar, ob er die Gefängnisstrafe zur Bewährung aussetzt oder nicht. Denn dass es eine Haftstrafe geben muss – von einem bis zu vier Jahren – schreibt das neue Gesetz zwingend vor.

Darüber hinaus muss die Polizei das Raser-Fahrzeug auf der Stelle einziehen – der Staat beschlagnahmt es unmittelbar. „Das Auto wird zudem verwertet“, sagt Thomas Rohrbach vom Bundesamt für Straßen in Bern. Die Behörden verkaufen es und tilgen mit dem Erlös die Bußen sowie die Kosten für das gesamte Verfahren und dem möglichen Schadenersatz. „Wenn dann noch etwas übrig bleibt, geht das Geld an Opferhilfevereine“, sagt Rohrbach. In der Realität bedeutet das: Wer etwa mit einem Ferrari im Wert von 300 000 Euro als Raser unterwegs ist, muss je nach Höhe der anderen Kosten mehrere 100 000 Euro an die Allgemeinheit blechen – der Fahrzeugwert bestimmt also gewissermaßen das Strafmaß. Dieser Vorgang kommt faktisch einer Enteignung gleich. Und einer Ungleichbehandlung. Ob das vor dem obersten Gericht der Schweiz Bestand hätte, ist im Augenblick noch fraglich. Denn nach so kurzer Zeit hat noch niemand dagegen geklagt. „Das neue Gesetz setzt ganz klar auf Abschreckung. Wir hoffen auf die präventive Wirkung“, erklärt Thomas Rohrbach.

Die Behörden setzen die neuen Gesetze – die naturgemäß auch für Fahrer aus dem Ausland gelten – offenbar konsequent um: „Das neue Jahr war noch keine drei Stunden alt, da hat es schon den ersten erwischt“, sagt Rohrbach. Mit 225 km/h auf der Autobahn, bei erlaubten 120. Silvan Granig von Road Cross hat seit Jahresbeginn schon sechs Fälle gezählt. „Wir sehen, dass das Thema in den Medien stark aufgenommen wird. Und wir haben ein Auge drauf, dass die neuen Gesetze auch zur Anwendung kommen.“

Das Auto als archaisches Symbol

„Wir dürfen bei der Debatte aber nicht vergessen, dass sich die neuen Vorschriften auf einen zum Glück kleinen Kreis von extremen Personen beschränkt“, sagt Rohrbach. Aber wer sind diese Menschen, die mit bis zu 100 km/h durch 30er-Zonen brettern? Oder mit 150 durch geschlossene Ortschaften? Joachim Kohler aus Kreuzlingen weiß, welcher Typus oft hinter dem „klassischen Raser“ steckt. Der Verkehrspsychologe arbeitet als Gutachter für die Behörden. Bei ihm landen Schnellfahrer, die sich nach einer Führerscheinsperre wieder um eine Fahrerlaubnis bemühen.

„Der typische Raser ist jung, er ist männlich und er hat überdurchschnittlich oft einen Migrationshintergrund. Außerdem stammt er aus einer unteren Bildungsschicht“, präzisiert Kohler. Dem Psychologen kommt die Aufgabe zu, anhand der strafrechtlichen Vorgeschichte und im persönlichen Gespräch herauszufinden, ob sich der Kandidat künftig an die Regeln halten wird. Und sein Auto fortan nicht mehr als Waffe oder archaisches Symbol von Stärke und Männlichkeit sieht. Doch ihre Fahrzeuge drücken genau das laut Kohler meistens aus: „Der Raser fährt zum Beispiel einen BMW M3 mit 240 PS.“ Das Auto sei für solche Menschen eine „symbolische Selbstergänzung“, wobei es im Vergleich zu Freunden und Kollegen von größter Bedeutung sei, ob man nun 20 PS mehr oder weniger unter der Haube habe.

Dass es aber nicht immer der von Joachim Kohler charakterisierte Rasertyp sein muss, zeigt das Beispiel aus der Neujahrsnacht: Laut Bundesamt für Straßen war die Person 49 Jahre alt, weiblich und Schweizerin ohne Migrationshintergrund.