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Heidenrepublik

Im Land herrscht „religiöse Ahnungslosigkeit“

Politik / Lesedauer: 7 min

Im Land herrscht „religiöse Ahnungslosigkeit“
Veröffentlicht:01.12.2017, 19:23

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Deutschland ist mehr oder weniger eine Heidenrepublik. Nicht viel anders sieht es in anderen Staaten Westeuropas aus. Ganz allgemein in der „Westlichen Welt“. Das Christentum ist weitgehend zur Folklore verkümmert. Nur noch eine Minderheit der deutschen und westeuropäischen Christen weiß, warum Feste wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten gefeiert werden und was der Advent – außer dem Adventskranz – bedeutet. Es herrscht religiöse Ahnungslosigkeit.

Das gilt auch für die jüdische Glaubensgemeinschaft in Deutschland, Europa und weitgehend auch in den USA. Wir leben nicht nur in einer entchristlichten Gesellschaft. Daran ändert auch und gerade das bevorstehende „Christfest“, also Weihnachten, nichts. Nicht einmal der Weihnachtsbaum hat ursprünglich etwas mit dem Christentum zu tun. Der Baum gehört seit jeher zum heidnischen Brauchtum, auch wenn manche den Weihnachtsbaum „Christbaum“ nennen. Ohnehin gehört dieser erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, zuerst in Deutschland, zur Christfest-Folklore. Dennoch, die Kirchen werden zu Weihnachten voller als sonst. Der Grundbefund bleibt: Die Mehrheit der Deutschen ist religiös-christlich eher analphabetisch. Zum Trost der Nenn- oder Nicht-mehr-Christen sei daran erinnert, dass ihre jüdischen „Brüder und Schwestern“ außerhalb Israels keinen Deut kenntnisreicher oder religiöser sind.

Religion spielt für die alteingesessene deutsche und westeuropäische Gesellschaft eine immer geringere Rolle. Das ist nicht allein auf das Versagen der katholischen und evangelischen Kirche zurückzuführen. Allerdings vergessen vor allem bundesdeutsche Repräsentanten der Protestanten oft, dass Politik Opium für die Religion ist. Sie müssen höllisch aufpassen, dass sie den Himmel nicht aus den Augen verlieren. Man sollte Kirchenvertreter daran erinnern, dass Politiker auf der Politik-Klaviatur besser spielen können als sie. Den politischen Wettbewerb mit der Politik kann die Kirche nur verlieren, auch wenn besonders die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) sich nicht selten wie der verlängerte rot-grüne Arm darstellt.

Katholische Kirche hat politische Vergangenheit überwunden

Die katholische Kirche in Deutschland hat ihre (partei-)politische Vergangenheit inzwischen weitgehend überwunden. Das war in den 1950er-Jahren noch ganz anders. Besonders in Bayern platzierten die Kirchen-„Schafe“ ihr Kreuz an genau die Stelle, die der „Herr Pfarrer“ ihnen nahe gelegt hatte. Das italienische Satire-Pendant in Abgrenzung zum Kommunismus bietet immer noch die köstlich klug-amüsanten Bücher über „Don Camillo und Peppone“ von Giovannino Guareschi aus dem Jahre 1948, die von 1952 bis 1965 als Mehrteiler mit dem hinreißenden französischen Komiker Fernandel und Gino Cervi verfilmt wurden. Sicher wird irgendein Fernsehsender zur Weihnachtszeit einen der Filme ausstrahlen. Die Zuschauer werden dadurch weder christlicher noch kommunistisch.

Das heißt nicht, dass katholische Würdenträger immun gegen Politik wären. Hier und da, besonders in Deutschland, passt sich die katholische Welt der evangelischen an. Vor etwas mehr als einem Jahr besuchten Kardinal Marx und der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm Jerusalem. Sie meinten, besonders brave Gäste zu sein, indem jeder von beiden auf dem Tempelberg der Muslime und an der Klagemauer der Juden sein jeweiliges Kreuz abnahm. Die höchsten Vertreter des deutschen Christentums verzichteten von sich aus auf das Symbol des Christentums schlechthin. Wie können sie erwarten, dass ihre Gemeinden ihr Christentum ernster nehmen und offensiver vertreten als ihre Oberen?

Die Wurzeln der Entchristlichung des Christentums sowie der Entjudung der Diasporajuden reichen tiefer. Die Entfernung und Entfremdung von der Religion („Säkularisierung“) gehört zur Entstehen und Entwicklung der Moderne. Das mag einem gefallen oder nicht, so ist es.

Tiefer liegende Gründe

Anders als in den religiösen Epochen vor der Moderne werden zudem historische Katastrophen wie der Erste oder Zweite Weltkrieg, nicht mehr als „Strafe Gottes“, sondern als „teuflisches“ Menschenwerk verstanden. Vor der Moderne beziehungsweise Säkularisierung fragten die vom Leid betroffenen Menschen: „Weshalb hat Gott das zugelassen?“ Seit der Säkularisierung fragen sie: „Wo war, wo ist Gott?“, und „wissen“ sogleich die Antwort: „Es gibt ihn nicht“, oder „Gott ist tot“ – was indirekt besagt, dass er gelebt habe, es ihn also zumindest gab.

Noch ein tiefer liegender Grund ist zu nennen. Die Bibel, sowohl das Alte als auch das Neue Testament, sind antike Literatur. Gläubige und erst recht dogmatisch gläubige Christen und Juden sagen: „Die Bibel ist Gotteswort durch Menschenmund.“ Damit räumen sie – korrekt – ein, dass die Bibel von Menschen niedergeschrieben wurde. Für Gläubige kein Problem, denn Menschen schrieben, der dogmatischen Sichtweise entsprechend, das ihnen von Gott beziehungsweise dem Heiligen Geist Eingegebene nur nieder. Nicht-Gläubige sagen: „Die Bibel ist Menschenwerk“, nicht Gotteswerk oder -wort. Das scheint identisch, ist es aber nicht, denn im ersten Fall ist Gott das steuernde Subjekt beziehungsweise der Akteur, im zweiten ist es der Mensch. Das Wesen der erzählenden antiken Literatur ist den meisten modernen Menschen unbekannt. Es sei kurz erklärt. Antike Erzähler, namentlich bekannte wie unbekannte, auch natürlich die biblischen Erzähler, setzten den Lesern Geschichten vor, wenn sie erklären oder beschreiben wollten, was und wie und warum etwas allseits Bekanntes so geworden ist. Dabei war Erzählern und Lesern bewusst, dass diese Geschichten nicht Geschichte, also nicht wirklich historisch, waren und somit nicht wortwörtlich als wahr zu Verstehendes.

Einfluss der Dogmatiker wirkt im Religionsunterricht

Christliche und jüdische Dogmatiker wollen diese Selbstverständlichkeit vergessen, verdrängen oder gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Für sie sind die Geschichten eben Geschichte, ja, mehr noch als Heilsgeschichte wahre Geschichte. Der Einfluss jener Dogmatiker wirkt nicht zuletzt im (meist schlechten) Religionsunterricht an den Schulen. Dort lernen sie einerseits moderne Naturwissenschaften und andererseits (meist schlechten) Religionsunterricht. Die Inhalte dieser Fächer widersprechen einander fundamental. Die Folge: Die Bibel wird als verdummender „Kinderkram“ betrachtet, ohne dass die tiefe Symbolik des Erzählten auch nur andeutungsweise erfasst wird. Dazu zwei Beispiele.

Beispiel eins, die Jungfrauengeburt. Maria ist, den Evangelien zufolge, Mutter und Jungfrau. Spätestens im Biologie-Unterricht lernen die Schüler, dass dies unmöglich ist. Beispiel zwei, die Altfrauengeburt. Sarah, die jüdische Stamm-Mutter, lesen wir in Genesis, habe mit 90 Jahren ihren Sohn Isaak zur Welt gebracht. Lachhaft finden das moderne jüdische ebenso wie christliche Schüler, mit oder ohne Biologie-Unterricht.

Die Bibel ist rein literarisch, unstrittig, große Weltliteratur. Sollten ausgerechnet diese grandiosen Schriftsteller, selbst Kinder ihrer Eltern und wohl meistens auch selbst (damals weniger Mütter, also) Väter, weniger biologische Fakten kennen als heutige Schüler? Absurd. Weshalb also diese Geschichten? Um ihren Lesern zu signalisieren: Passt gut auf. Der Mann, der da geboren wurde – also Jesus oder Isaak – ist für die Welt und damit für euch von größter Bedeutung. Große Bedeutung und große Geschichte gehören zusammen. Allerdings: Wer erklärt das den Heutigen, jung oder alt?

Umgang mit Muslimen

Wer diese Geschichten beziehungsweise Bilder als „Kinderkram“ verkennt (das sind heute die meisten), erkennt nicht ihre tiefe Botschaft und wendet sich gelangweilt und sogar verprellt ab, weil „für dumm gehalten“.

Die Diagnose kann mühelos weiter vertieft werden. Darauf sei verzichtet. Die Folge jenes Sachverhalts ist hochpolitisch: In Deutschland und Westeuropa leben immer mehr Muslime. Die Mehrheit der Muslime ist gläubig bis tiefgläubig. Sie kennt ihre Religion zumindest in ihrer Wortwörtlichkeit – einschließlich „Dschihad“, also „Heiliger Krieg“. Christen (und Juden), die ihre eigene Religion nicht kennen und verstehen, können keinen „interreligiösen Dialog“ führen. Und wer den anderen nicht mit Worten versteht, bedient sich am Ende der Waffen. Die einen im Sinne religiöser Wortwörtlichkeit, die anderen als Folge ihrer Ahnungslosigkeit.