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Die irre Lust am Untergang der EU

Politik / Lesedauer: 6 min

Die irre Lust am Untergang der EU
Veröffentlicht:27.10.2016, 18:25

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Wie die Lemminge: Während die Welt jenseits unserer Grenzen immer bedrohlicher wird, sind wir Europäer dabei, das größte Friedensprojekt unserer Geschichte zu diskreditieren, zu demontieren, zu demolieren. Die Europäische Union ist zu einem Hassobjekt geworden: nicht für die Menschen außerhalb Europas, die unseren Kontinent als gelobtes Land des Wohlstands und der Rechtssicherheit sehen und die sich in Afrika oder Asien auf lebensgefährliche Wege begeben, um in Europa Frieden und Freiheit zu genießen. Nein, wir Europäer selbst haben die Nase vom vereinten Europa gestrichen voll.

EU-Bashing ist zu einem Volkssport geworden, der im Parlament, in der Redaktionsstube und am Stammtisch zu wüstesten Verschwörungstheorien und leidenschaftlichsten Reden inspiriert. In Großbritannien haben die Märchen und Mythen über die EU so abstruse Blüten getrieben, dass sich die EU-Kommission vor dem Brexit-Referendum am 23. Juni genötigt sah, einen alphabetischen Katalog der „Euromythen“ online zu stellen. Doch obgleich wir angeblich in einer Informationsgesellschaft leben, lieben manche die Desinformation mehr als die Information. Ein Blick in die mitunter recht asozialen „sozialen Netzwerke“ genügt, um zu sehen, dass Schaum vor dem Mund allemal mehr „likes“ bringt als nüchterne Aufklärung. Verschwörungstheorien können gar nicht zu abenteuerlich sein – sie werden geteilt, verbreitet, mit immer neuen Details angereichert und schließlich für bare Münze genommen.

Die EU ist völlig intransparent! Das weiß jeder, der sich noch nie auf die Internetseite des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission verirrt hat. Dass er dort Berge von Informationen findet, alle Plenarsitzungen des Parlaments, ja sogar Ausschusssitzungen in Echtzeit mitverfolgen kann, dass er Resolutionen und Gesetze in ihrem Entstehungsprozess und mit allen Mitwirkenden einsehen kann, würde ihn nicht vom Gegenteil überzeugen.

Die EU ist diktatorisch wie einst die So hallt es von vielen Stammtischen und aus Gazetten – völlig straffrei übrigens. Im Gegensatz zur Sowjetunion hat die EU keine Folterkeller für Kritiker, keine Geheimpolizei, die im rechtsfreien Raum agiert, keinen Gulag. Im Gegensatz zu den kommunistischen Tyranneien, mit denen sie heute – 25Jahre nach Ende des roten Spuks – verglichen wird, lässt die EU ihre Kritiker und Gegner offen sprechen. Selbst im Europäischen Parlament: Hier gibt es viele hoch bezahlte Abgeordnete und sogar zwei Fraktionen, die die EU offen ablehnen und an ihrer Zerstörung arbeiten. Die EU fordert im Gegensatz zu den meisten Nationalstaaten keinerlei Loyalität ein.

Die EU knechtet die Bürger mit immer mehr Regulierungen und Vorschriften! Davon sind selbst leidenschaftliche Europäer felsenfest überzeugt, obwohl sich leicht nachweisen lässt, dass der EU-Regulierungswahn ein alter Mythos ist. Sicher, häufig wurden in einer Gesetzesmaterie viele nationale Regulierungen durch eine gemeinsame europäische ersetzt – meist auf Bitten der Wirtschaft oder der Mitgliedstaaten, und meist mit dem Ziel, es dem grenzüberschreitenden Handel damit leichter zu machen. In einem gemeinsamen Binnenmarkt ist eine für alle 507 Millionen Einwohner geltende Vorschrift leichter zu beachten als 28 nationalstaatliche. Dennoch: Immer mehr Gesetzgebungsvorhaben werden zurückgenommen und gestrichen. Die Zahl der EU-Vorschriften und Regulierungen ist seit Jahren rückläufig. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker meinte bereits 2014: „Nicht jedes Problem in Europa ist ein Problem für Europa!“ Er setzt darauf, dass die EU sich um jene Politikfelder und Probleme kümmert, die von den Mitgliedstaaten nicht – oder nicht zufriedenstellend – bearbeitet werden können. Das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre, welches seit dem vielgescholtenen Vertrag von Maastricht geltendes EU-Recht ist.

Die EU ist ein bürokratisches Monster! Diesem Urteil ist schwer zu widersprechen, denn alle Staaten und staatsähnlichen Gebilde sind bürokratische Monster. Die Tatsache, dass viele deutsche, französische oder italienische Großstädte mehr Beamte besolden als die EU-Kommission, ist da ein schwacher Trost. Die ebenso belegte Tatsache, dass die Qualifikationshürden in der EU-Bürokratie (fast immer) höher und die Vetternwirtschaft (ganz überwiegend) geringer ist als in vielen Kommunen, Regionen und Nationalstaaten Europas, tröstet auch wenig. Aber wer sich einmal mit dem Übersetzerdienst der Kommission, den Dolmetschern im Europäischen Parlament oder den Diplomaten in dem im Aufbau befindlichen Europäischen Auswärtigen Dienst befasst, wird staunen, wie viel Fachwissen hier versammelt ist.

Die EU versagt in großen Krisen, wie jetzt angesichts der Flüchtlingskrise! Das sagen insbesondere jene nationalen Politiker gerne, die dafür sorgen, dass die EU versagt. Weil die Europäische Union eben keine Sowjetunion ist, der Kommissionspräsident kein Diktator und das Europäische Parlament kein Oberster Sowjet, darum können Brüssel und Straßburg die EU-Mitgliedstaaten nicht dazu zwingen, ihre eigenen Beschlüsse auch umzusetzen. Und so reisen die Regierungschefs der 28Mitgliedstaaten denn auch gerne nach Brüssel – um Erfolge nachher zu ihrem Sieg zu erklären und Misserfolge „denen in Brüssel“ in die Schuhe zu schieben. In der Flüchtlingskrise hat die EU-Kommission nicht nur früh gewarnt und Lösungsvorschläge auf den Tisch gelegt, sie hat auch ihre Strategien immer wieder angepasst, nachdem einige Mitgliedstaaten sich einem gemeinsamen Vorgehen verweigerten.

Ein Staat im Werden

Die EU ist weder das Reich Gottes auf Erden noch eine Societas Perfekta noch eine finstere Verschwörung zur Abschaffung der Demokratie. Sie ist ein Staat im Werden: mit Gewaltenteilung und Transparenz, mit Kinderkrankheiten und Rückschlägen. Die nationalen Regierungen benutzen sie, wo es ihnen nützlich und ertragreich scheint, und sie verleumden und beschädigen sie, wo sie sich einen Vorteil erhoffen. Das war schon immer so, auch vor jenen nationalistischen Eiferern, die heute den Austritt ihres Landes aus der EU propagieren. Die EU ist (wie alle Staaten aller Zeiten) verbesserungsbedürftig. Sie ist aber auch verbesserungswürdig, denn sie ist das einzige Modell, das für uns Europäer im Zeitalter der Globalisierung funktionieren könnte.

Europa, eine Friedensidee

Entweder wir Europäer sind gemeinsam souverän, oder wir werden von Moskau, Washington und Peking aus regiert. Die Nationalstaaten haben die Völker Europas im 20. Jahrhundert in Kriege und Weltkriege, in Vertreibungen und „ethnische Säuberungen“ gestürzt. Im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter der globalen Krisen und Bedrohungen, sind sie viel zu klein, um den Europäern noch Freiheit, Frieden, Sicherheit, Recht und Wohlstand zu garantieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa eine Friedensidee – heute ist es unsere einzige Chance, in den gefährlicher gewordenen Zeiten der Globalisierung souverän und selbstbestimmt zu überleben.

Der Journalist und Sachbuchautor Stephan Baier arbeitete unter anderem als Pressesprecher und Parlamentarischer Assistent des langjährigen Europaabgeordneten Otto von Habsburg am Europäischen Parlament.