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Ba-Wü-Chef der FDP Michael Theurer im Interview

Politik / Lesedauer: 6 min

Baden-Württembergs FDP-Chef Michael Theurer zur Air-Berlin-Insolvenz und zu den Chancen von Europa
Veröffentlicht:24.08.2017, 20:56

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Für Michael Theurer, Spitzenkandidat der FDP im Südwesten, ist der Ausbau der Digitalisierung in Europa eines seiner wichtigsten Politikziele. „Wir sollten die Chancen nutzen, die sich aus der Wahl von Emmanuel Macron ergeben haben – auch für den Ausbau der Digitalisierung in Europa“, sagte der Europaparlamentarier im Gespräch mit Hendrik Groth und Claudia Kling. Es gehe um Hunderttausende Arbeitsplätze. Zugleich kritisierte Theurer das Vorgehen der Bundesregierung im Dieselskandal und in der Air-Berlin-Insolvenz: „Der Wirtschaftsministerin fehlt die ordnungspolitische Orientierung.“

Herr Theurer, in Ihrem neuen Wahlwerbevideo ergreifen Sie Partei für mittelständische Unternehmen. Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Bundesregierung im Insolvenzverfahren von Air Berlin?

Wenn ein Großkonzern in die Insolvenz gerät, bedeutet das Staatsknete. Wenn 800 Handwerker mit zehn Mitarbeitern in die Insolvenz geraten, kommt der Gerichtsvollzieher. Das ist schon bemerkenswert. Der Wirtschaftsministerin fehlt die ordnungspolitische Orientierung. Brigitte Zypries wird zur Monopolministerin, wenn sie öffentlich davon spricht, Lufthansa zum nationalen Champion machen zu wollen, indem das Unternehmen Anteile von Air Berlin übernimmt. Hinzu kommt, dass neben den 150 Millionen Euro Überbrückungskredit noch 70 Millionen Euro aus der Insolvenzgeld-Kasse der Bundesanstalt für Arbeit mobilisiert werden sollen. Das heißt, der Handwerker in Ravensburg bezahlt für Air Berlin beziehungsweise für die Lufthansa. Das finde ich nicht in Ordnung.

Würden Sie das als künftiger Wirtschaftsminister einer schwarz-gelben oder einer schwarz-gelb-grünen Koalition wieder rückgängig machen?

Wenn ich schon wählen darf, möchte ich Finanzminister werden. Spaß beiseite: Als FDP-Wirtschaftsminister wäre ich natürlich klar gegen jede Art von Staatshilfen.

Noch mehr als Air Berlin beunruhigt die Verbraucher der Dieselskandal. Wären Sie mit den deutschen Autoherstellern strenger umgegangen als die jetzige Regierung?

Die Bundesregierung gibt in dieser Frage keine gute Figur ab. Der Dieselgipfel war ein Flop, Nachrüstungen sind notwendig, dürfen aber nicht zulasten der Steuerzahler und Verbraucher gehen. Da ist die Automobilindustrie in der Verantwortung, die sich nicht mit Ruhm bekleckert hat. Gleichzeitig halte ich die Diskussion um ein Verbot von Diesel- und Benzinmotoren für Harakiri, auch wegen der Umweltprobleme bei Lithium-Ionen-Batterien. In Deutschland hängen insgesamt drei Millionen Arbeitsplätze an der Automobilindustrie und deren Zulieferern. Es wäre ein großer strategischer Fehler, wenn wir die Technologieführerschaft beim Verbrennungsmotor aufgeben würden.

Sie bezeichnen sich selbst als leidenschaftlichen Europäer. Wieso wollen Sie von Brüssel nach Berlin wechseln?

Machen wir uns nichts vor, die große Idee Europa liegt am Boden. Die Krise Europas ist das Versagen der Nationalstaaten in zentralen Feldern wie der Migrations- und Asylpolitik, dem Schutz der gemeinsamen Außengrenzen und der grenzüberschreitenden Bekämpfung von Terrorismus. Aber für die Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht die Europäische Union zuständig, sondern es sind die Mitgliedsstaaten, die einstimmig entscheiden müssen. Deshalb liegt der Schlüssel für die Revitalisierung der europäischen Idee in Berlin.

Sind Sie frustriert von Brüssel?

Ich habe in acht Jahren Brüssel und Straßburg gesehen, dass vieles geht, und vieles nicht geht. Ich bin ein glühender Europäer, und genau deshalb glaube ich, dass es auf Deutschland ankommt. Wir tragen eine besondere Verantwortung und brauchen eine wirklich europäische Politik in Berlin. Wir sollten die Chancen nutzen, die sich aus der Wahl von Emmanuel Macron ergeben haben – auch für den Ausbau der Digitalisierung in Europa. Als erstes sollten wir eine europäische Regierungscloud, also eine sichere Datenwolke, wie es die Amerikaner schon haben, schaffen.

Muss es auch wieder mehr Kontrollen an den innereuropäischen Grenzen geben, um besser gegen Verbrecher und Terroristen vorgehen zu können?

Die Terroristen sind grenzüberschreitend unterwegs, deshalb ist es ein Skandal, dass die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit nicht besser organisiert wird. Wir müssen endlich eine EU-Grenzschutzpolizei, eine EU-Küstenwache und ein europäisches Bundeskriminalamt nach dem Vorbild der US-amerikanischen Bundespolizei FBI schaffen. Denn wenn es uns nicht gelingt, die Außengrenzen der europäischen Union wirksam zu schützen, lässt sich die Personenfreizügigkeit im Schengenraum, eine zentrale Errungenschaft der Europäischen Union, nicht aufrechterhalten.

Die Forderungen nach einer Datencloud und mehr Polizei klingen nicht wie die Forderung einer liberalen Partei. Wie geht das zusammen?

93 Prozent aller Daten, die in Europa erhoben werden, werden in den USA verarbeitet. Facebook baut lieber ein neues Unterseekabel unter dem Atlantik als Rechnerkapazitäten in Europa aufzubauen. Wenn wir unsere Daten wirksam schützen wollen, müssen wir sie in der Jurisdiktion Europas halten. Sichere Datennetze sind die Grundvoraussetzung für Datenschutz und Bürgerrechte, die für uns einen hohen Stellenwert haben.

Die Digitalisierung scheint Ihnen zu einem Herzensanliegen geworden zu sein.

Der digitale Tsunami, wie ich es formuliere, ist in vollem Gange, und er wird weite Teile des Mittelstandes erfassen. Natürlich löst es Ängste aus, wenn Studien besagen, dass von 640 000 Beschäftigten in der Finanzindustrie etwa 400 000 durch digitale Innovationen ihren Arbeitsplatz verlieren könnten. Das ist auch für die Mittelständler hier im Südwesten eine Herausforderung. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber, deshalb stellen wir dem unser Konzept des „German Mut“ entgegen.

In Baden-Württemberg betreibt die FDP eine harte Oppositionspolitik gegen Grün-Schwarz. Auf Bundesebene werden Sie als künftiges Dreigestirn gehandelt. Könnte das Ihrer Glaubwürdigkeit schaden?

Im Gegenteil. Die baden-württembergische FDP ist der Glaubwürdigkeitsanker der Bundes-FDP. Wir wollen den Politikwechsel, aber wir werden in keine Regierung eintreten, wenn nicht wesentliche Inhalte unseres Programmes umgesetzt werden können. Als Verhandlungsführer habe ich in Baden-Württemberg die Gespräche mit SPD und Grünen geführt. Als ich gesehen habe, dass unsere Kernpunkte beispielsweise bei der Gemeinschaftsschule und der Polizeireform nicht umzusetzen sind, haben wir uns für die Opposition entschieden.

Welche Inhalte wollen Sie denn umsetzen?

Einer der Knackpunkte ist ein Zuwanderungsgesetz nach kanadischem oder australischem Vorbild. Die Union ist immer noch nicht abgerückt von der Illusion, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Das stimmt aber nicht. Im Gegensatz zu anderen Industrienationen sind wir nur nicht in der Lage, die Zuwanderung zu steuern. Ein weiteres Thema ist die Entbürokratisierung, beispielsweise die Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes. Wir wollen die unnötige Mindestlohnbürokratie, unter der die mittelständischen Betriebe in der Gastronomie, aber auch in der Landwirtschaft in der Bodenseeregion leiden, abschaffen. Zudem soll die arbeitende Mitte durch das Ende der kalten Progression und des Solis entlastet werden.

Ihr Wahlziel heißt „acht Prozent plus X“. Falls das X größer werden sollte, haben Sie eigentlich ausreichend professionelles Personal für eine entsprechende Regierungsbeteiligung?

Seien Sie beruhigt, wir haben genügend qualifizierte Persönlichkeiten – in Baden-Württemberg eine Mischung aus Erfahrung und frischem Wind. Wir haben sowohl Parlaments- als auch Regierungserfahrung in der FDP. Aber natürlich wäre es ein großer Sprung, aus der außenparlamentarischen Opposition in eine Regierung einzusteigen.

Und wie stehen Sie zu einer schwarz-gelb-grünen Koalition?

Jamaika ist eine mögliche Option, eine Mehrheit jenseits der stagnierenden Großen Koalition zu erreichen. Schleswig-Holstein zeigt aber auch, dass dies nicht konfliktfrei läuft. Wenn ich grüne Forderungen höre, wie Vermögensteuer wiedereinführen, Erbschaftsteuer erhöhen, Verbot des Verbrennungsmotors, ist eines völlig klar: Das ist mit der FDP nicht zu machen.

Ein Video mit Michael Theurer finden Sie unter www.schw äbische.de/qualurne