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„Habe Angst, wenn ich Männer mit Bärten sehe“

Politik / Lesedauer: 9 min

„Habe Angst, wenn ich Männer mit Bärten sehe“
Veröffentlicht:04.01.2018, 19:41

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Nach ihrer Flucht in ein baden-württembergisches Kloster können jesidische Frauen zwar aufatmen – doch das Leid ist nicht zu Ende.

Diese Stimme, diese Haltung, dieser Gesichtsausdruck: Die 27-jährige Gule (alle Namen in diesem Text wurden von der Redaktion geändert) sitzt an einem hölzernen Wohnzimmertisch und erzählt von ihrem Leben. Vom Leben einer 27-jährigen Jesidin, die wie tausend andere jesidische Frauen vom sogenannten Islamischen Staat (IS) verschleppt, missbraucht und verkauft wurde. „In unser Trinkwasser haben sie Benzin gemischt“, erinnert sich die Frau. Es sei braun gewesen wie der Tisch. Auch mit Drogen – mit „Haschisch“, sagt Gule auf Kurdisch – seien sie von den IS-Anhängern betäubt worden. Was die Terroristen damit bezweckt haben, bleibt unausgesprochen im Raum. Während Gule weitererzählt, hört man auf dem Flur vor dem Zimmer ihre Kinder spielen. Sie klingen fröhlich, ganz im Hier und Jetzt – ein Zustand, von dem Gule weit entfernt ist. Während ihrer elfmonatigen Gefangenschaft hat sie ihre Kinder so gut beschützt, wie es eben ging. Alle drei auf dem Schoß gehabt, damit sie nicht auf dem kalten Boden sitzen müssen. Jetzt sind das Mädchen und die beiden Buben sieben, fünf und vier Jahre alt.

Groß, mächtig, fast herrschaftlich wirkt das Kloster in Baden-Württemberg , in dem Gule und ihre Kinder Zuflucht fanden. Im Januar 2016 war das. Papst Franziskus hatte ein halbes Jahr zuvor Pfarrgemeinden und Klöster aufgerufen, Flüchtlingen die Türen zu öffnen. Die Ordensschwestern folgten seinem Appell und bauten einen Trakt in der Anlage so um, dass sie dort heimatlos gewordene Menschen aufnehmen konnten. „Wir hatten den Wohnraum und haben uns dann überlegt, welche Möglichkeiten infrage kommen“, sagt Schwester Deborah, die sich viel um die neuen Klosterbewohner kümmert. Auch das Land Baden-Württemberg hatte früh die Notgerade der jesidischen Opfer des „Islamischen Staates“ erkannt und Ende 2014 ein spezielles Hilfsprogramm ins Leben gerufen. Mehr als 1000 Frauen und Kinder kamen so über ein Sonderkontingent in den Südwesten. Gule und die 43-jährige Rewaz, die ebenfalls mit ihren zwei Kindern im Kloster wohnt, gehörten dazu.

„Ich habe meine Tochter in IS-Gefangenschaft zur Welt gebracht, ohne einen Arzt oder eine Hebamme. Nur zwei Frauen haben mir geholfen“, berichtet Rewaz, die neun Monate festgehalten wurde. Während sie erzählt, gestikuliert sie aufgeregt mit ihren Händen, vielleicht um das Grauen, das sie erlebt hat, greifbar zu machen. Ihr kleiner Sohn, der inzwischen wie aufgedreht auf dem Sofa herumhüpft, hat eine Behinderung – frühkindlicher Autismus, lautet die Diagnose. Damals konnte er weder laufen noch sprechen. Ein IS-Kämpfer forderte sie auf, sich von ihrem Sohn zu trennen, dann würde er sie zur Frau nehmen. Dabei war Rewaz bereits verheiratet. Ihren Ehemann hat sie aber seit August 2014 nicht mehr gesehen. Als sie und die anderen Frauen aus ihrem Dorf in einer Wohnung eingesperrt waren, haben sie draußen Schüsse gehört. „Ich denke immerzu an meinen Mann“, sagt Rewaz mit Tränen in den Augen. Sie weiß, dass er wohl tot ist, aber in ihrem Kopf ist er noch lebendig.

Die UN sprechen von Genozid

Die zwei Frauen, die so unterschiedlich sein mögen, verbindet ein gemeinsames Schicksal: die vom IS oder Daesh, wie die beiden auch sagen, begangenen Gräueltaten. Die Vereinten Nationen sprechen inzwischen von einem an den Jesiden begangenen Völkermord. Und beide Frauen haben durch die Hand des IS alles verloren, was Menschen wichtig ist: ihre Heimat, ihre Partner, ihre Familien, ihren Lebensmut. Geblieben sind die allerschlimmsten Erinnerungen, aber auch schöne Erinnerungen an die Zeit vor August 2014. „Im Shingal hatten wir ein Haus, wir lebten mit unseren Eltern und unseren Geschwistern zusammen. Wir hatten Geld und Gold. Der Daesh hat uns alles genommen, das vergesse ich nie in meinem Leben“, sagt Gule. Sechs Jahre lang war sie damals schon verheiratet und hatte bis dahin wahrscheinlich keinen einzigen Tag in ihrem Leben allein verbracht. Jetzt sitzt sie 4000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt in einer provisorischen Wohnung und ist auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Der große Familienverbund von einst – zerschlagen. Viele, vor allem die Männer, sind vermisst. Die Überlebenden – verteilt auf mehrere Länder.

Schlafen. Ruhe finden. Keine Alpträume haben. Gleich zu Beginn des Besuchs bittet Rewaz die Ordensschwester um eine Tablette, damit sie endlich schlafen kann. Seit 14 Tagen gehe das nun so, sagt sie. „Jedes Mal, wenn ich die Augen zumache, schrecke ich wieder hoch.“ In ihren Träumen und in ihren Gedanken ist sie noch immer im Nordirak , bei ihren Peinigern. Von dem schlechten Wasser, das sie ihr gegeben haben, träumt sie dann. Unter ihren Augen hat sie schwarze Ringe. Und ihr Körper, vor allem die Beine und der Rücken, schmerzen immerzu. Auch Gule klagt über beständige Schmerzen, sie spürt sie im Rücken und im Unterleib. Während ihrer Gefangenschaft mussten die Frauen oft auf dem kalten Boden schlafen. Die Ordensschwestern kümmern sich darum, dass sie ärztlich versorgt werden, um organische Ursachen auszukurieren. Aber den Weg zu einem Therapeuten, der sich auch ihrer traumatischen Erlebnisse annimmt, müssen sie selbst betreten.

Die richtige Therapeutin finden

„Ich fühle mich nun so weit, dass ich eine Therapie anfangen könnte“, sagte Gule zögerlich. Erkundigt hat sie sich bereits, wo und wie eine solche Therapie sein könnte. Aber den letzten Schritt hat sie noch nicht gemacht: wegen der Kinder, wegen ihrer allgemein schlechten Verfassung, wegen ihrer geringen Deutschkenntnisse, weil der richtige Therapeut, oder besser, die richtige Therapeutin noch nicht gefunden wurde. „Sie hat das einfach noch nicht geschafft“, sagt Schwester Deborah, die wahrscheinlich wie kaum eine andere abschätzen kann, wie den Frauen zumute ist. Auch bei Rewaz stößt der Versuch, sie zu einer Therapie zu bewegen, auf Widerstände. „Sie denkt, dass eine Tablette die Lösung wäre für ihre Probleme“, sagt die Ordensschwester. Rewaz‘ Eigentherapie heißt Putzen und mit den Kindern rausgehen. Aber nachts, wenn die Ablenkungsmöglichkeiten fehlen, kommen die Erinnerungen zurück.

Erinnerung – das Wort klingt fast zu schön, um das zu beschreiben, was die Frauen tagtäglich heimsucht. In Gedanken kehren sie immer wieder in die Zeit in der IS-Gefangenschaft zurück. „Ich konnte einmal im Monat meine Kleidung waschen und musste sie nass wieder anziehen, weil ich nichts anderes hatte“, sagt Gule. Das war, bevor sie an einen Araber verkauft wurde, der sie zwingen wollte, zum Islam zu konvertieren. Ihre jüngere Schwester, die ebenfalls vom IS verschleppt wurde und nun mit der Mutter in den USA lebt, hat sich vier Monate lang nicht mehr gewaschen, weil sie wusste, dass scheinbar verrückte Mädchen von den sogenannten Gotteskriegern nicht weiterverkauft werden. Ihre Freiheit verdankt Gule der jesidischen Gemeinschaft, die Geld gesammelt hat, um Frauen zurückkaufen zu können. 20 000 US-Dollar war ihr Preis – diese Summe hat die kurdische Regionalregierung, so Gule, den Jesiden später erstattet. Der Menschenhandel war gut organisiert und hat den IS-Leuten viel Geld gebracht: Erst wurden die Frauen von ihnen missbraucht, dann, wenn sie ihr Interesse verloren hatten, wurden ihre Opfer weiterverkauft. „Zuerst die Mädchen und jungen Frauen, dann die älteren“, sagt Gule. Tausenden Jesidinnen ist es so ergangen, und das Leiden hat längst kein Ende: Nach wie vor werden rund 3000 Frauen aus dem Nordirak vermisst.

„Ich habe Angst, wenn ich in der Stadt Männer mit langen Haaren und Bärten sehe“, sagt Gule. Wenn sie eine Straße entlanggeht, dreht sie sich ständig um, weil sie befürchtet, es könne ihr jemand folgen. In der ersten Zeit im Kloster stand sie meistens am Fenster, um zu beobachten, was draußen passiert. „Die Angst ist immer in meinem Kopf“, sagt Gule. Sie verfolgt sie. Und sie macht ihr auch den Alltag so unheimlich schwer. Soziale Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des Klosters sind kaum möglich. Denn diejenigen, die ihre Muttersprache sprechen, sind Türken und Muslime. Gule sieht in ihnen „Feinde“, die ihre Familie getötet haben. Selbst über die Kinder, die in den Kindergarten und die Schule gehen, hat sich bislang wenig ergeben. Denn die Jesidin, die in ihrer Heimat niemals eine Schule besucht hat, spricht kaum Deutsch. In einem Alphabetisierungskurs lernt die 27-Jährige nun zum ersten Mal den Umgang mit Buchstaben. Rewaz kann zwar kurdisch und arabisch schreiben, aber auch sie spricht bislang kaum Deutsch. „Ihr Kopf ist so voller Gedanken, da passt im Moment nicht mehr rein“, sagt Schwester Deborah. Immerhin: Es gibt eine kurdische Übersetzerin, die hilft.

Langer Weg zur Integration

Als die baden-württembergische Landesregierung nach dem Überfall des „Islamischen Staates“ auf das Shingal-Gebiet im Nordirak Ende 2014 beschloss, mehr als 1000 schwer traumatisierte jesidische Frauen aus dem Nordirak zu holen, war das Programm auf drei Jahre angelegt. 80 Millionen Euro waren veranschlagt worden, um den Frauen dabei zu helfen, wieder ins Leben zu finden. Diese Mittel wurden längst nicht so schnell abgerufen, wie es sich die Verantwortlichen gedacht haben, im September 2017 war erst knapp die Hälfte verwendet worden. Inzwischen wurde das Hilfsprogramm um weitere zwei Jahre verlängert – doch was passiert dann mit den Frauen? „Bis dahin müssten sie Deutsch können und eine Arbeit gefunden haben“, sagt Schwester Deborah. „Für die Mütter ist das ein langer Weg.“ Dass die Frauen in den Nordirak zurück müssten, erscheint unvorstellbar. Deshalb tun die Schwestern viel dafür, dass wenigstens die jesidischen Kinder sicher in Deutschland ankommen. „Sie sollen einen guten Start haben“, so Schwester Deborah, die offensichtlich ihrer neuen Rolle – aller Tragik zum Trotz – auch Schönes abgewinnen kann.

„Wenn ein Mensch Kinder tötet, Mädchen mit zehn Jahren verheiratet, Frauen in Gefangenschaft hält und Männern den Kopf abschneidet, dann soll er nicht leben“, antwortet Gule auf die Frage, was mit den IS-Kämpfern, die ja inzwischen militärisch als geschlagen gelten, passieren soll. Aus ihrer Stimme weicht für einen kurzen Moment die Traurigkeit, sie klingt nun hart und bitter. „Ich werde nie mehr froh sein, ich vergesse das alles nicht.“ Viele von denjenigen, die den jesidischen Frauen das angetan haben, konnten entkommen, sie sind in den Wirren des Krieges im Untergrund verschwunden. Ob sie sich je vor Gericht verantworten müssen, ist offen.