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„Krieg gegen den Terrorismus ist völlig gescheitert“
Politik / Lesedauer: 5 min
Durch die Attentate am 11. September habe sich die Situation in den arabischen Ländern stark verschlechtert. Das sagte der Hamburger Politologe Stephan Rosiny im Interview mit Nadine Sapotnik.
„Nichts wird so sein, wie es einmal war“, hieß es nach dem 11. September. Hat sich das bewahrheitet?
Aus der westlichen Sicht mag diese Einschätzung zutreffen, da die Anschläge des 11. Septembers 2001 die Konflikte des Nahen Ostens mitten in die USA trugen. Für die Region haben sich die strukturellen Probleme hingegen kaum verändert, sondern sie wurden nur noch verschärft. Zu diesen Problemen gehören die seit Jahrzehnten herrschenden autoritären Regime, die die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Region behinderten. Die meisten dieser Regime wurden und werden bis heute vom Westen unterstützt. Mit den Attentaten des 11. Septembers wollte al-Kaida deshalb die USA aus dem Nahen Osten vertreiben, um anschließend die prowestlichen Regime stürzen zu können. Stattdessen griff der Westen noch stärker militärisch in der Region ein und hat letztlich den Fortbestand der Autokratien ermöglicht.
Der al-Kaida-Chef Aiman al-Zawahiri nennt den Arabischen Frühling ein Resultat des 11. Septembers. Hätte es die Aufstände ohne die Anschläge nicht gegeben?
Das Gegenteil ist der Fall, der Arabische Frühling wäre vermutlich weit früher ausgebrochen, hätte es den 11. September und den anschließenden „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht gegeben. Die Attentäter des 11. Septembers sind indirekt dafür verantwortlich, dass es trotz massivem sozialem Druck seit 2001 zu keinen Reformen mehr in der arabischen Welt kam. Denn als Konsequenz der Anschläge begannen westliche Allianzen die Kriege in Afghanistan 2001 und im Irak 2003. Beide Kriege haben die Region politisch weit zurückgeworfen. Die autoritären Regime konnten ihre Macht stabilisieren, weil sie im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ und der damit zusammenhängenden Einschränkung von Freiheitsrechten auch gegen gemäßigte Oppositionelle vorgingen.
Ist die schwierige Lage in Syrien eine Konsequenz der Angriffe auf die Twin Towers und das Pentagon?
Der syrische Bürgerkrieg ist nur sehr indirekt eine Folge des 11. Septembers. Im Arabischen Frühling ist die Unzufriedenheit mit den Regimen schließlich doch noch als breite Massenbewegung ausgebrochen. Es gibt dort aber aufgrund der politischen Repression kaum Erfahrungen mit Demokratie und politischer Freiheit, auch keine säkularen Parteien mit einer breiten Basis in der Bevölkerung, die eine alternative Ordnung anbieten konnten. Die einzige Gruppe mit einer bedeutenden Anhängerschaft, die eine Alternative anbot, waren gemäßigte Islamisten wie die Muslimbruderschaft in Ägypten. Daneben profitierten aber auch fundamentalistische Salafisten und – im Zuge der gewaltsam eskalierten Proteste in Libyen, Syrien und im Jemen – militante Dschihadisten wie der Islamische Staat. Der syrische Bürgerkrieg ist in gewisser Weise ein Zusammenprall dieser verschiedenen Richtungen.
Wie bewerten Sie im Rückblick die US-Außenpolitik nach dem 11. September?
Ihre Reaktion hat die Region in ein Pulverfass verwandelt. Man hat den islamistischen Terrorismus durch die Kriege in Afghanistan und im Irak nicht besiegt, sondern noch verstärkt. Die Hunderttausenden Ziviltoten haben die Wahrnehmung in der Region bestärkt, der Westen messe mit zweierlei Maß. Auch die internationalisierten Bürgerkriege seit 2011 in Syrien, Libyen und im Jemen sind indirekte Folgen des Irakkriegs, weil sich die in Afghanistan und im Irak trainierten und radikalisierten Dschihadisten in die Aufstände einmischten und sich in den zerfallenden Staaten ausbreiten konnten. Die ganze Region wurde destabilisiert, und es wird sehr schwierig, diese Länder wieder zu befrieden. Der rein militärische „Krieg gegen den Terrorismus“ ist somit völlig gescheitert.
Wie werden sich in Zukunft die Grenzen der Staaten im Nahen Osten verändern?
Die Kriege im Irak, in Syrien und im Jemen sind stark von ethnischen und konfessionellen Gegensätzen zwischen Sunniten und Schiiten, Arabern und Kurden geprägt. Als Lösung wird deshalb mitunter gefordert, man müsse die Grenzen anpassen, um einheitliche Staaten zu gründen. Ich halte das für einen Fehler, da es in der Region keine ethnisch und konfessionell homogenen Territorien gibt und in den neuen Staaten nur neue Minderheitenkonflikte entstehen würden.
Was wäre denn aus Ihrer Sicht eine bessere Lösung?
Die bestehenden Grenzen müssen erhalten bleiben. Es müssen allerdings schrittweise moderne Staaten erschaffen werden mit stabilen Institutionen der politischen Vertretung und Verwaltung, mit Sicherheitskräften und einer Wirtschaftspolitik des regionalen Ausgleichs, die Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit gleich behandeln.
Das wird sicher ein sehr langer Prozess sein.
Ja, deshalb braucht man auch Zwischenschritte. In Syrien muss man den unterschiedlichen Gemeinschaften zunächst eine Machtbeteiligung garantieren, um ihnen die Angst vor einer Machtübernahme durch die sunnitische Bevölkerungsmehrheit zu nehmen. Alle regionalen und globalen Akteure müssen damit aufhören, ihre Stellvertreter im Krieg aufzurüsten. Die internationale Gemeinschaft muss als Übergang für Sicherheit und eine Entwaffnung der Kampfparteien sorgen – etwa durch UN-Truppen – und dann den Wiederaufbau des Landes und des Staates unterstützen. Nur durch solche grundlegenden Reformen lassen sich al-Qaida und der Islamische Staat nachhaltig besiegen.