StartseitePolitikDie Euphorie in Russland ist verflogen

Euphorie

Die Euphorie in Russland ist verflogen

Politik / Lesedauer: 4 min

Land kämpft mit Wirtschaftsproblemen – Kanzlerin Merkel wird am 2. Mai in Sotschi als Vermittlerin erwartet
Veröffentlicht:27.04.2017, 17:24

Von:
Artikel teilen:

Ein kolossales Bauprojekt ist zurzeit das heiße Gesprächsthema in Moskau. Es trägt den Namen „renowazija“ (Renovierung). Die Metropole will eine Altlast des Sozialismus loswerden – jene hässlichen und engen Wohnhäuser mit fünf Stockwerken, die ab 1950 der Ex-Parteichef Nikita Chruschtschow errichten ließ, um die Wohnungsnot zu lindern. 8000 solcher Häuser sollen in Moskau in den nächsten Jahren zerstört, 1,6 Millionen Menschen umgesiedelt werden – ob sie wollen oder nicht. Das ist so, als würde man ganz München den Zwangsumzug verordnen.

Die Idee verspricht bessere Wohnverhältnisse für manche, sie birgt aber auch viel sozialen Sprengstoff. Denn 20 Prozent der Moskowiter, also 2,5 Millionen Menschen, lehnen die „renowazija“ ab, weil sie Betrug und Willkür befürchten. Auch wenn die Mehrheit hinter dem Projekt steht, machen dem Kreml diese Zahlen Angst. Wenn die Opposition es schaffen würde, auch nur ein Zehntel der Unzufriedenen auf die Straßen zu führen, würde Russland die größten Proteste seit Jahren erleben. Und so stellte Präsident Wladimir Putin klar, dass bei der Umsiedlung alle Bürgerrechte gewahrt werden müssen.

Putin dürfte die landesweiten Aktionen am 26. März gegen die Korruption nicht vergessen haben. Der Oppositionelle Alexei Nawalny sorgte mit seinen Enthüllungen im Netz gegen den angeblich kriminellen Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedjew dafür, dass an jenem Tag die Menschen in 82 Städten demonstrierten. In Moskau waren es etwa 20 000 zumeist junge Protestler, ungefähr 1000 wurden festgenommen.

Nawalny will als Präsidentschaftskandidat in elf Monaten Putin die Wiederwahl streitig machen. Er wird deswegen permanent von den staatlich kontrollierten Medien angegriffen. Zwar hat der Chef des „Fonds zum Kampf gegen die Korruption“ viele Anhänger unter der jüngeren Generation, doch die meisten Russen hegen für ihn keine großen Sympathien. Nach einer verbreiteten Theorie soll der charismatische Jurist ein Feigenblatt des autoritären Putin-Regimes sein, das eine Opposition nur vortäusche, um demokratischer zu wirken. Ob aus Nawalnys Kampagne eine junge Protestbewegung in Russland hervorgeht, ist fraglich.

Enttäuschte Hoffnungen

Zumindest hat es aber der 40-Jährige geschafft, das Ansehen Medwedjews schwer zu beschädigen. In einer neuen Umfrage fordern 45 Prozent der Russen den Rücktritt des blassen Regierungschefs, der Villen und Yachten besitzen soll. Der Schaden geht aber noch über die Person Medwedjew hinaus und trifft den Kern des Systems: Putins ineffizienten und korrupten Staatsapparat, der die Träume vieler Menschen von Sicherheit und Wohlstand nicht erfüllt hat.

Laut einer Umfrage sind es 51 Prozent der Russen leid, auf die von Putin versprochenen besseren Zeiten zu warten. Sie sehen aber keine Alternative zum Kremlchef. Darum stehen heute 72 Prozent hinter ihm – obwohl das Land drei Jahre nach der Besetzung der ukrainischen Halbinsel Krim in einer Stagnation feststeckt, die vom Ölpreisverfall, den Sanktionen und den ausbleibenden Strukturreformen verursacht wurde.

Russlands Industriewachstum betrug im ersten Quartal 2017 nur 0,1Prozent. Im Februar und März schrumpften die verfügbaren Einkommen der Menschen um 3,8 und 2,5 Prozent verglichen mit den gleichen Monaten des Vorjahres. Die Demoskopen zählen heute nur noch 13Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht, während 40 Prozent der Bürger im Schnitt maximal 330 Euro im Monat verdienen und damit unter dem Armutsniveau leben. Laut einer neuen Erhebung arbeiten heute 50 bis 65 Prozent der Kinder im Schulalter, um ihren Familien finanziell zu helfen, die meisten von ihnen illegal.

Dass die Russen deswegen im März 2018 Putin abwählen würden, scheint aber ausgeschlossen. Die Frage für den Kreml ist nicht ob, sondern wie überzeugend der 64-Jährige die Wahl gewinnt. Denn die Apathie ist so hoch, dass sich die Berater des Präsidenten die Köpfe darüber zerbrechen, wie sie überhaupt die Wähler in die Wahllokale bekommen.

Die nationalistische Euphorie nach der Annexion der Krim ist verflogen. Wie gewohnt schüren die TV-Kanäle bei der Bevölkerung Einkreisungsängste, indem sie im Sowjetstil den Westen als aggressiv, expansionistisch und antirussisch darstellen. Dabei fallen allerdings die Bemühungen auf, den US-Präsidenten Donald Trump nicht persönlich anzugreifen. Noch hat Moskau die Hoffnungen auf einen Neustart in den eisigen Beziehungen mit den USA nicht verloren.

Darum wird Putin am 2. Mai ein offenes Ohr für Angela Merkel in Sotschi haben, die für Russlands Führung als eine Vermittlerin gilt. Von der Kanzlerin werden Tipps für den Umgang mit der neuen US-Administration erwartet. Andererseits soll sie Trump davon überzeugen, strategische russische Interessen im Ausland ernst zu nehmen. Merkels wichtigstes Anliegen dürfte die Lösung der Ukraine-Krise sein. Hier sind keine größeren Fortschritte zu erwarten. Putin macht die Führung in Kiew für die Blockade des Minsk-Abkommens verantwortlich und sieht keinen Gesprächsbedarf mehr über den Krieg oder den rechtlichen Status der Krim.