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Impfkampagne

„Das Ziel ist, Polio auszurotten“

Politik / Lesedauer: 7 min

Unicef spricht anlässlich des heutigen Welt-Polio-Tages über Fortschritte und Rückschläge bei der Bekämpfung der Krankheit
Veröffentlicht:27.10.2016, 16:06

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2017 soll die Welt frei von Polio sein – dieses Ziel hat sich die internationale Staatengemeinschaft gesetzt. Doch in Zeiten von Krieg und Terror geraten die Impfkampagnen immer wieder ins Stocken. Sarah Schababerle hat mit dem Pressesprecher von Unicef Deutschland, Rudi Tarneden gesprochen:

Herr Tarneden, wo gibt es heute noch Polio?

Es gibt noch drei Länder auf der Welt, Afghanistan, Pakistan und Nigeria, wo Polio endemisch ist, das heißt, wo das Virus in so großen Zahlen in der Bevölkerung zirkuliert, dass es sich immer wieder aufs Neue verbreitet. Das sind instabile Staaten mit zum Teil extremer Armut und schwachen Gesundheitssystemen, in denen Gewalt stets auf der Tagesordnung steht. Gleichzeitig leben dort sehr viele Kinder. Überall, wo ähnliche Verhältnisse herrschen, steigt die Gefahr, dass Polio erneut ausbricht. Im vergangenen Jahr gab es beispielsweise einen Polioausbruch in Syrien .

Was macht Polio so gefährlich?

Das Polio-Virus war einst die Hauptursache für schwere körperliche Behinderungen. Durch Routineimpfungen hat sie ihren Schrecken verloren – trotzdem müssen Kinder auch bei uns weiter geimpft werden. Die so genannte Poliomyelitis oder Kinderlähmung befällt vor allem Kinder unter fünf Jahren. Die hoch ansteckende Viruskrankheit kann innerhalb weniger Stunden zu irreversiblen Lähmungen und in einigen Fällen sogar zum Tod führen.

Wie viele Fälle gibt es weltweit?

Polio wurde bereits stark zurückgedrängt. Während es 1988 noch 350000 Poliofälle in 125 Ländern gab, waren es 2015 lediglich 74 offiziell registrierte Fälle. Diese Proportion zeigt, dass die weltweiten Massenimpfkampagnen sehr viel bewirkt und großes Leid verhindert haben. Aktuell gibt es nur noch sehr wenige Polioerkrankungen, aber die müssen wir sehr ernst nehmen. In Syrien erkrankten im vergangenen Jahr plötzlich mehrere Kinder. Das war der Ausgangspunkt für große Massenimpfungen, weil man weiß, wie gefährlich das Virus ist. Das Heimtückische beim Poliovirus ist, dass nicht jeder, der ihn sich eingefangen hat, auch erkrankt. Aber er gibt ihn weiter. Das Virus kann nur beim Menschen überleben. Indem man also möglichst alle Kinder impft, entzieht man ihm die Lebensgrundlage.

Warum ist es so schwer, einen flächendeckenden Impfschutz herzustellen?

Seit dem Jahr 2000 sind weltweit rund 2,5 Milliarden Kinder gegen Kinderlähmung geimpft worden. Das ist ein enormer Fortschritt. Aber in vielen Ländern gibt es Kinder, die nicht erreicht werden oder nicht die notwendigen Folgeimpfungen bekommen. Außerdem sind die Gesundheitssysteme so schlecht, dass oft nicht erkannt wird, wenn irgendwo Polio ausgebrochen ist. Wichtig ist, dass man im Fall eines Polioausbruchs umgehend reagiert und in der Umgebung eines betroffenen Kindes möglichst alle Kinder noch einmal impft, um den Herd einzugrenzen. Dazu braucht es Gesundheitsstationen, Ärzte und entsprechende technische Voraussetzungen. Es gibt noch einen weiteren Faktor, der das Ganze erschwert: Im Norden und Nordosten von Nigeria haben zum Beispiel Fundamentalisten Polio auch benutzt, um Ängste zu schüren. Sie haben behauptet, dass der Impfstoff die Kinder vergifte oder unfruchtbar mache. Das sind unhaltbare Behauptungen, aber das führt dazu, dass manche Eltern ihre Kinder nicht zum Impfen schicken. Neben dem Technischen ist es deshalb auch wichtig, den Menschen Informationen zu geben und Vertrauen aufzubauen.

Besteht eine Gefahr für Europa?

Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, solange so viele Kinder nicht geimpft sind. Man geht davon aus, dass weltweit etwa 100 Millionen Kinder als unterimmunisiert gelten. Dazu gehören auch die, die schon einmal einen Polioimpfstoff bekommen haben, aber keine Folgeimpfung erhalten haben. Solange es nicht gelingt, dieses letzte Prozent der Kinder zu erreichen, dann ist es denkbar, dass die Kinderlähmung zurückkehrt. In Zeiten großer Flüchtlingsströme, aber auch vieler Reisen in Entwicklungs- und Schwellenländer ist es nie auszuschließen, dass man sich ansteckt.

Was unternehmen die Hilfsorganisationen, um Polio einzudämmen?

In Syrien sind im vergangenen Jahr mit Hilfe von Unicef 20 Millionen Kinder geimpft worden. Das war insofern erstaunlich, als es gelungen ist, die Impfungen über die Konfliktgrenzen hinweg in den meisten Regionen Syriens durchzuführen. Impfteams waren im ganzen Land unterwegs, außer in den vom sogenannten Islamischen Staat kontrollierten Gebiete. Eine ähnlich große Maßnahme gibt es derzeit im Irak. Wir hoffen, dass wir in den nächsten Tagen über fünf Millionen Kinder unter fünf Jahren mit dem Polioimpfstoff versorgen können. Impfteams gehen im Moment auch zu den Menschen, die aus Mossul fliehen oder die in den Ortschaften leben, die jetzt wieder unter der Kontrolle der irakischen Streitkräfte stehen. Das soll verhindern, dass Kinder, die seit zwei, drei Jahre überhaupt keinen Impfschutz hatten, sich anstecken, oder den Virus, den sie in sich tragen, an andere Flüchtlinge weitergeben.

Wie läuft eine Impfkampagne konkret ab?

Ich habe selbst in einem Dorf in Afghanistan erlebt, wie schwierig es ist, wenn viele nicht lesen und schreiben können, Eltern davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, ihre Kinder zu impfen. Am Impftag lief ein Muezin mit einem Megafon durch den Ort und hat die Leute zusammengerufen. Die Eltern mit ihren Kindern kamen dann alle auf den Markt, wo man sie geimpft hat. Gleichzeitig gehen die Teams von Haus zu Haus, um sicher zu gehen, dass auch alle Kinder erreicht wurden. All das setzt sorgfältige Planung und Organisation voraus. Helfer müssen dafür sorgen, dass die Voraussetzungen da sind, um Impfstoffe zu kühlen. Sie werden zum Teil in umhängbaren Kühlboxen transportiert, weil man die Kinder in den ärmsten Gebieten mit Fahrzeugen oft nicht erreichen kann. Manchmal geht das nur mit dem Esel oder zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Die Helfer müssen sicherstellen, dass genügend sterile Instrumente, Handschuhe und so weiter da sind und dass die Impfungen unter hygienischen Bedingungen stattfindet. Dahinter steckt viel mehr, als nur der Tropfen, der als Polioimpfstoff gegeben wird.

Gibt es Gebiete, die sie mit Ihren Kampagnen derzeit nicht erreichen?

In Afghanistan, Pakistan und Nigeria ist es immer noch sehr schwierig. Dabei spielt die Sicherheitslage eine entscheidende Rolle. Oft ist es für die Helferteams zu gefährlich, in bestimmte Regionen. Es hat in den vergangenen Jahren mehrere gewalttätige Übergriffe zum Beispiel auf Gesundheitshelfer in Pakistan gegeben. Unicef und seine Partner wie die Weltgesundheitsorganisation und die jeweiligen Behörden versuchen, diese Kampagnen vorzubereiten, sodass die Helfer vor Ort wirklich alle Kinder erreichen.

Wie wollen Sie das erreichen?

Wir binden die regionalen und lokalen Akteure ein. Dazu gehört auch, dass man die Menschen darauf vorbereitet und in öffentlichen Anhörungen aufklärt, wenn sie Ängste oder verunsichert sind. Man darf den Menschen nicht einfach etwas überstülpen, sondern muss sie wirklich mitnehmen. Die hohe Anzahl an Kindern kann man mit den Impfkampagnen nur erreichen, indem man sehr viele freiwillige Helfer vor Ort hat. Das sind Menschen aus den Dörfern, die einen besseren Zugang zu den Menschen haben, als die Experten, die von außen kommen.

Gibt es neben Polio noch weitere Probleme?

Es gibt noch eine ganze Reihe an gefährlichen Infektionskrankheiten, wie Masern, Diphterie, Tetanus, aber auch Lungenentzündungen und Cholera. Die haben bei uns ihren Schrecken verloren. Für die Kinder in den ärmsten Ländern sind sie weiter sehr gefährlich. Impfen ist dabei eine vergleichsweise kostengünstige Möglichkeit, Gesundheitsrisiken für Kinder zu reduzieren. Die Kampagnen sind auch eine Chance, an die Kinder heranzukommen. Häufig werden sie im Rahmen der Kampagnen auch gewogen und die Ärzte schauen, wie der Ernährungszustand der Kinder insgesamt ist. So können wir akut mangelgefährdete Kinder identifizieren und dafür zu sorgen, dass sie in Gesundheitszentren spezielle Unterstützung bekommen.

Welche Botschaft haben Sie anlässlich des Welt-Polio-Tages?

Das Ziel von Unicef ist, Polio auszurotten. Die starke Eingrenzung des Virus´ ist eine Errungenschaft, die auch unter den Bedingungen von Armut und Instabilität in vielen Ländern aufrechterhalten werden muss. Wenn man das schafft, dann haben wir die Perspektive, in einigen Jahren Polio den Wirt zu entziehen, also wirklich alle Kinder zu impfen, und die Krankheit damit auszurotten. Das ursprüngliche Ziel, bis 2017 Polio-frei zu sein, ist sehr ambitioniert angesichts der Situation, wie sie sich auf der Welt im Moment darstellt. Aber wir sehen die Chancen und setzen alle Kraft daran, dieses Ziel auch zu verwirklichen.