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Amtseinführung

Aus dem schönen Schein wird nichts

Politik / Lesedauer: 4 min

Rund 60 Abgeordnete bleiben der Vereidigung Donald Trumps zum US-Präsidenten fern und lassen damit diplomatische Traditionen außer Acht
Veröffentlicht:19.01.2017, 20:46

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Den schönen Schein zu wahren, darauf hat der afroamerikanische Bürgerrechtler John Lewis noch nie Wert gelegt. Also ließ er in einem Interview wissen, dass er der Amtseinführung Donald Trumps am heutigen Freitag fernbleibe, weil er in dem Mann keinen legitimen Präsidenten sehe. Schließlich habe Russland die Kandidatur Hillary Clintons zerstört, Moskau habe mit seinen Hacker-Angriffen geholfen, Trump zu wählen.

Was mit dem Interview begann, wird heute mit einem veritablen Boykott enden: Rund sechzig Kongressabgeordnete haben sich mit Lewis solidarisiert. Sie folgen dem Beispiel Lewis’, der 1965 an der Spitze eines Demonstrationszuges über die Edmund-Pettus-Brücke in Selma marschierte, wo Polizisten mit Knüppeln so heftig auf seinen Schädel einschlugen, dass sie ihn fast zertrümmerten.

Lewis’ moralische Autorität ist unbestritten, und nun werden wohl um die 60namhafte Demokraten durch Abwesenheit glänzen, wenn Trump vor dem flaggengeschmückten Kapitol mit seiner frisch renovierten Kuppel den Eid ablegt. Es wird also nichts mit dem schönen Schein. Theoretisch soll es so sein: Sobald die Wahlschlacht geschlagen ist, halten die Anhänger beider großer Parteien inne, um zu feiern, dass sich der Übergang der Macht in Amerika friedlich vollzieht. Sobald der Sieger gekürt ist, bringen ihm auch die Verlierer guten Willen entgegen. Was in aller Regel bedeutet, dass die Beliebtheitswerte des angehenden Präsidenten in den zwei Monaten zwischen Wahl und Vereidigung kräftig ansteigen. Das Spektakel am Kapitol soll die Versöhnung gewissermaßen krönen: Es signalisiere, „dass wir als geeintes Volk hinter einer alles überdauernden Republik stehen“, steht voller Pathos in der wappenverzierten Einladung. Einzigartig amerikanisch sei das. In diesem Jahr ist es anders. Trumps Popularität ist seit dem Spätherbst gesunken. Schon die Kontroverse mit Lewis macht deutlich, warum. Statt wenigstens einmal einen Einwand mit souveränem Schweigen zu übergehen, griff der schnell Beleidigte zu seinem Smartphone, um sich mit ein paar giftigen Twitter-Zeilen zu rächen. Lewis solle weniger reden und sich mehr um seinen Wahlbezirk kümmern, der sich in fürchterlichem Zustand befinde, wetterte er.

Nun sitzt Lewis, ein Weggefährte Martin Luther Kings, für Atlanta im Repräsentantenhaus, und die pulsierende Metropole des Südens als chronischen Krisenfall zu bezeichnen, geht schon sehr an den Tatsachen vorbei. Trump scheine überall dort, wo in großer Zahl Afroamerikaner lebten, chronische Krisenfälle zu sehen, sagte die kalifornische Abgeordnete Maxine Waters. „Ich jedenfalls werde ihm nicht die Ehre erweisen, ich respektiere ihn nicht, ich will nichts zu tun haben mit dieser Inauguration“, sagte sie. Worauf der Milliardär ungerührt erwiderte, wer nicht zu erscheinen gedenke, möge ihm seine Eintrittskarte zurückgeben, er brauche dringend mehr Tickets.

„Die Hoffnung sind Sie“

Im Kellergeschoss des Nationalarchivs sitzen David Axelrod und Jay Carney bei einer Podiumsveranstaltung. Der eine war mal Chefstratege, der andere Pressesprecher des scheidenden Präsidenten Barack Obama. Beide singen ein Hohelied auf das ungeschriebene Gesetz, nach dem sich der Transfer von einer Administration zur nächsten so reibungslos wie möglich zu vollziehen hat. Auch dann, wenn ein Trump einen Obama ablöst. Carney erzählt, wie er am Tag nach der Wahl an Sean Spicer schrieb, den altgedienten Republikaner, der Pressesprecher im Weißen Haus wird. Er, Spencer, könne ihn jederzeit um Rat fragen, keine Frage. Axelrod schwärmt davon, wie kooperativ sich die Mannschaft George W. Bushs vor acht Jahren gegenüber dem Team Obamas verhalten habe. Dasselbe, sagt er, gelte nun für Obamas Leute, sie wollten nun ihrerseits Trumps Riege das Einarbeiten so leicht wie möglich machen.

Als das Publikum sich an der Debatte beteiligen darf, tritt eine schwarze Studentin aus Kansas an ein Mikrofon und fragt: „Sagen Sie mir bitte, welche Hoffnung ich jetzt noch haben soll?“ Axelrod antwortet: „Die Hoffnung sind Sie.“

In Chevy Chase, einem Viertel im Nordwesten Washingtons, hat sich Mike Pence für ein paar Wochen einquartiert, bevor er heute in seine Residenz einzieht. Pence wollte, ehe er als Juniorpartner Trumps für die Vizepräsidentschaft kandidierte, im Gouverneursamt des Bundesstaats Indiana ein Gesetz durchsetzen, das es jedem Ladenbesitzer, jedem Kleinunternehmer erlauben sollte, schwule und lesbische Kunden abzuweisen. Dem Text nach aus religiösen Gründen. Knapp zwei Jahre ist das her. Nun lässt ihn Chevy Chase spüren, was es davon hält. Typisch für die Gesinnung einer liberalen Hauptstadt, deren Wähler übrigens zu 91 Prozent für Hillary Clinton stimmten. Rings um die Tennyson Street, wo Pence kurzzeitig wohnt, weht inzwischen vor jedem zweiten Haus eine Regenbogenflagge. Szenen eines Kulturkonflikts.