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Wladimir Kaminer: „Es war ein sehr enges Leben in Moskau“

Kultur / Lesedauer: 6 min

Der Autor erinnert sich in seinem neuen Buch an seine Jugend in der Sowjetunion
Veröffentlicht:16.09.2016, 15:50

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Wladimir Kaminer gilt als Autor mit ganz eigenem Sound. Für die einen ist er der „Lieblingsrusse der Deutschen“ oder der „Russe vom Dienst“, andere sehen in ihm den „Kiez-Chronisten im Prenzlauer Berg“ oder einfach nur einen „Experten für Gurken“. In seinem neuesten Buch „Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger“ erzählt der Wahlberliner humorvoll von kuriosen Erfahrungen, die seine lebenskluge Mutter im Lauf der Jahrzehnte gemacht hat. Im Gespräch mit Olaf Neumann erinnert sich der Autor an seine Kindheit und Jugend in der Sowjetunion und beschreibt das Verhältnis zu seiner Mutter.

Vor fünf Jahren schrieben Sie ein Buch über Ihre kaukasische Schwiegermutter und jetzt über Ihre Mutter. Hat sie auf Gleichbehandlung gedrängt?

Nein, im Gegenteil. Sie wollte zuerst überhaupt kein Buch. Und dann hat sie alles sehr ernst genommen, allein schon wegen dem Foto auf dem Cover mussten wir viel durchmachen. So, wie sie war, hat sie sich zu Hause fotografieren lassen und dummerweise hat sie dieses Foto ihren Freundinnen und Tanten gezeigt. Und alle haben gesagt: „Bist du verrückt! Was ist das überhaupt für ein Pullover, den gibt es bei Aldi im Sonderangebot. Jetzt wird das ganze Land wissen, wo du dich einkleidest.“ Daraufhin bat meine Mutter mich, beim Verlag anzurufen. Es war furchtbar! Am Ende haben wir uns darauf geeinigt, dass wir ihren Pullover mit einem Computerprogramm verändern.

Wie findet Ihre Mutter das Buch?

Ich glaube, es ist das einzige deutschsprachige Buch, das sie vollständig gelesen hat. Anschließend sagte sie zu mir: „Jetzt weiß ich endlich, was für ein abenteuerliches Leben ich eigentlich habe.“

Haben Sie Ihre Mutter immer als modern erlebt oder merken Sie, dass sie eine Generation älter ist?

Meine Mutter hat so ziemlich alles mitgemacht, was die Sowjetunion in den letzten 70 Jahren bereithielt für ihre Bürger. Das färbt ab und gibt den Menschen ein gemeinsames Schicksal. Es war ein sehr enges Leben. In Moskau wohnten alle Menschen in sehr kleinen Räumen und waren jeden Tag auf die gleichen Dinge angewiesen. Man konnte sich dort kaum zu einer besonderen Persönlichkeit entfalten.

Ihre Mutter mochte als junge Frau John F. Kennedy und übersetzte technische Texte aus dem Englischen ins Russische.

Alle Russen mochten JFK! In Odessa am Schwarzen Meer lasen alle am Strand das gleiche Englisch-Lehrbuch. Selbst wenn diese Texte keinen literarischen Wert hatten, waren es doch Texte aus dem Ausland. Und das wusste man zu schätzen. Fast alle, die ich kenne, haben damals Englisch gelernt.

Die Beziehung zur Mutter ist angeblich die schwierigste Beziehung unseres Lebens. Wie empfinden Sie das?

Meine Beziehung zu meiner Mutter war immer sehr liebevoll. Wir sind uns nie in die Quere gekommen und haben uns immer geholfen. Egal, in was für eine schwierige Situation ich geriet, stets kam meine Mutter mit einem Glas voll gekochter Kartoffeln mit Petersilie an und hat mich gefüttert. Ob ich es nun im Pionierlager wegen zu strenger Disziplin nicht aushalten konnte oder in der Armee. Dort war ich an einem Raketenabwehrstützpunkt stationiert, und wir durften keinen Besuch haben, weil es ein geheimes Objekt war. Aber im Wald hatten wir an einer Stelle Stacheldraht auseinandergerissen und da kroch meine Mutter mit einem Glas Petersilienkartoffeln hindurch. Das wusste ich sehr zu schätzen.

Und wie haben Sie Ihre Mutter unterstützt?

Zum Beispiel als sie nach Deutschland kam. Zuerst wohnten wir zusammen, das war nicht so gut, aber dann habe ich ihr eine eigene Wohnung zwei Straßen weiter besorgt. Sie war die ganze Zeit in meiner Nähe. Auch heute telefonieren wir noch jeden Tag.

Gab es in Ihrer Jugend auch Konflikte zwischen Ihnen und Ihrer Mutter?

Mit meinem Vater habe ich mich gestritten. Er konnte mit meiner damaligen Hippieausstattung nichts anfangen. Ich weiß noch, wie wir uns mal an einer Bushaltestelle trafen und er zu mir sagte, ich solle drei Schritte Abstand halten, damit die Menschen nicht denken, wir gehören zusammen. Meine Mutter hingegen nahm mein Hippie-Outfit gelassen hin. Als ich beschlossen hatte, in eine Kommune zu ziehen, brachte sie mir sogar eine dicke rote Decke vorbei, damit ich nicht friere. Sie war immer sie selbst, mein Vater hingegen wollte immer größer erscheinen als er war. Ich glaube, ich habe ihre Gelassenheit geerbt.

Hat sie sich in Deutschland schnell einleben können?

Sie scheute sich nicht vor kleinen Jobs. In den ersten Jahren trug sie zum Beispiel Pizzawerbung aus. Dabei musste sie eigentlich gar nicht arbeiten, denn sie wurde noch in der DDR aufgenommen und diese hat ihre Lebensarbeitszeit bei der Rente anerkannt.

Wie groß ist Ihre Familie?

Außer in Russland und in der Ukraine, wo wir viele Verwandte haben, gibt es noch Familienmitglieder in Israel, Amerika und in Australien. Ein entfernter Verwandter aus Israel hat mich angeschrieben, er betreibt Ahnenforschung, und hat sehr viele neue Verwandte entdeckt. Plötzlich sind wir sogar mit einem israelischen Schriftsteller verwandt.

Wie wirkt sich der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auf Ihre Familie aus?

Mir gefällt das Wort „Konflikt“ in diesem Zusammenhang nicht. Konflikt bedeutet, wenn beide Seiten einander etwas antun. Aber in diesem Fall hat Russland sein Nachbarland überfallen, es war eine Annexion. Ist das ein Konflikt? Der Ukraine wurde ein Teil ihres Territoriums geraubt mit der Absicht, ihr noch größere Teile wegzunehmen. Das hat nicht geklappt. Jetzt steht der Dieb da mit der Hand in der fremden Tasche und alle Welt sagt ihm, er solle die Hand da wieder rausnehmen. Aber Russland sagt, vor 200 Jahren gehörte diese Tasche seinem Großvater. Eine peinliche Situation für Russland.

Wie gehen Sie damit um?

Ich schäme mich für diese Geschichte, weil ich 20 Jahre lang in Deutschland versucht habe darzulegen, was für wunderbare Menschen die Russen sind, die in großen Schritten auf ein europäisches Zusammenleben zusteuerten. Und dann passiert so was. Vor 25 Jahren versuchten die KGB-Generäle gegen Gorbatschow zu putschen. Damals gingen Hunderttausende auf die Straße und verhinderten den Putsch. Denn sie wollten nicht zurück in die sozialistische Diktatur. Und heute stellen sie fest, dass der Putsch eigentlich gelungen ist. Die gleichen Generäle haben durch die Hintertür die Macht ergriffen und steuern das Land jetzt in die Vergangenheit. Man kann kaum noch etwas Gutes darüber schreiben. Ich versuche es trotzdem.

Reisen Sie noch oft in die Heimat?

Vor zweieinhalb Jahren war ich das letzte Mal in Russland. Durch meine politische Haltung liege ich jetzt im Clinch mit den Machthabern. Es ist für mich kein guter Zeitpunkt, dort hinzureisen.

Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren, lebte aber seit Anfang 1990 in der DDR, wo er auch sofort die Staatsbürgerschaft erhielt. Nach der Wiedervereinigung wurde Kaminer automatisch deutscher Staatsbürger. Vor allem der Erzählband „Russendisko“ machte den Schriftsteller einer größeren Leserschaft bekannt.

Wladimir Kaminer: „Meine Mutter, ihre Katze und der Staubsauger. Ein Unruhezustand in 33 Geschichten.“ Manhattan Verlag. 255 Seiten, 17,99 Euro.