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Kultur / Lesedauer: 4 min

Beethovens „Fidelio“ an der Staatsoper Stuttgart – Befreit vom Ballast der Tradition
Veröffentlicht:26.10.2015, 17:58

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Beethovens „Fidelio“ an der Staatsoper Stuttgart ist vom Ballast der Tradition befreit.

Unter Regisseuren gilt Ludwig van Beethovens „Fidelio“ nicht von ungefähr als problematisch. Dennoch gehört das Stück zum Kernrepertoire des Opernbetriebs. Auch in Stuttgart widmet sich die erste Neuproduktion der Saison wieder einmal diesem Werk, das der Komponist selbst als sein „Schmerzenskind“ bezeichnet hat. Anhaltenden Applaus gab es bei der Premiere für Gesangssolisten, Chor, Orchester und Chefdirigent Sylvain Cambreling. Das Regieteam wurde mit Beifall und Buhs gleichermaßen bedacht.

Intendant Jossi Wieler und Chefdramaturg Sergio Morabito haben für ihre Inszenierung von Beethovens einziger Oper einen rezeptionsgeschichtlich neuen Ansatz gewählt. Die Aufführung dauert länger als gewohnt, weil die originalen Sprechdialoge komplett beibehalten werden. Im Opernbetrieb hat sich bereits früh die Ansicht durchgesetzt, das auf einer französischen Vorlage basierende „Fidelio“-Libretto von Joseph Sonnleithner und Friedrich Treitschke sei schlecht. Massive Kürzungen und Änderungen sind bis heute üblich.

Subtile Personenführung

Morabito und Wieler wollen derlei reflexhaft befolgte Konventionen nicht einfach so hinnehmen. Das ist ganz im Sinne Mahlers, der als „Bequemlichkeit und Schlamperei“ angeprangert hat, was Theaterleute ihre Tradition nennen. So hatte sich schon im 19. Jahrhundert die Balance von Text und Musik bei „Fidelio“-Aufführungen verschoben. Singspielelemente wurden zurückgedrängt zugunsten eines überhöhten Pathos.

Die Stuttgarter Produktion befreit „Fidelio“ vom Ballast dieser „Tradition“, die dem Stück nachträglich das Ideal durchkomponierter Musikdramen à la Wagner übergestülpt hat. Morabito führt die allgemein beklagten dramaturgischen Schwächen des Werks zurück auf solche Verfälschungen. Ihre meist unreflektierte Übernahme habe zu tun mit jenen Bequemlichkeiten des Betriebs. Eine überzeugende Aufführung mit originalen Sprechtexten erfordert jedoch intensive Proben. Dialoge müssen mit den Sängern schauspielerisch professionell erarbeitet werden.

Genau das hat man in Stuttgart getan. Die Personenführung ist subtil und intelligent. Sprache wird über Lautsprecher verstärkt. Selbst leise Geräusche wie das Öffnen eines Briefs oder das Knacken einer Plastikflasche sind deutlich zu vernehmen. Der im Juli verstorbene Bühnenbildner Bert Neumann hat diese akustische Notwendigkeit aufgegriffen. Von der Decke hängen unzählige Mikrofone, die nicht nur unangestrengtes Sprechen erlauben, sondern alles „mithören“ für den Überwachungsstaat.

Die Handlung spielt in einem hohen, grell ausgeleuchteten Raum mit weißen Wänden. In der Mitte steht ein verschlossener grauer Kubus. Dient er als geheimes Folterzimmer? Verbirgt sich in ihm das Verlies Floretans? Am Ende entpuppt er sich als Stasi-Aktenzentrale. Über ihr laufen auf einer Anzeigentafel mit kurzer Verzögerung gesprochene und gesungene Texte mit – ein Protokoll abgehörter Gespräche in Schreibmaschinenschrift. Auch die Familie Roccos ist diesem Terror ausgesetzt. Eine bunte Hollywoodschaukel ist der einzige „private“ Luxus, den regimetreue Wärter den Gefangenen voraus haben.

Grelle Kostüme

Nina von Mechow (Kostüme) hat das Personal mit seltsamen gelben und grauen Kutten samt Glitzeraufdruck ausgestattet. Die Gefangenen werden beim Freigang in verordnetem Trab rund um den Kubus gehetzt. Zum Appell müssen sie die Hände im Nacken verschränken. Der Staatsopernchor (Einstudierung: Johannes Knecht) überzeugt szenisch als abgestumpfte, fremdgesteuerte Masse, lässt aber gelegentlich letzte Sicherheit beim Singen vermissen.

Rebecca von Lipinski (Leonore) sieht als nervöser „Fidelio“ mit Kurzhaarschnitt aus wie ein Saisonarbeiter. Manche ihrer Einzeltöne gehen im melodischen Fluss unter, doch insgesamt meistert sie ihren Part mit Bravour und beeindruckt auch mit darstellerischer Klasse. Michael König (Florestan) geht seine Rolle als psychisch kaputter alter Mann zu heldenhaft an. In hoher Lage tönt er etwas gepresst, bewährt sich jedoch mit stabilem Tenor. Michael Ebbecke gibt als Gouverneur Pizarro vokal und szenisch brillant den bösen Schurken. Roland Bracht (Rocco) singt und spielt rollendeckend den Mitläufer mit Herz. Josefin Feiler (Marzelline) und Daniel Kluge (Jaquino) bezaubern als junges Paar. Ronan Collet (Don Fernando) bringt am Ende die brenzlige Situation mit routinierter Lässigkeit wieder unter Kontrolle. Pizarros „Entsorgung“ im frisch gegrabenen Loch für Florestan ist fast comicartig zugespitzt.

Chefdirigent Cambreling dirigiert die dritte Fassung von 1814. Das Orchester wartet mit schlankem, transparentem Klangbild und scharfen Konturen auf. Manche Wackler der Hörner stören, am Ende auch allzu grobe Fortissimi. Vielleicht soll sich aber mit solch martialischer Gestik das von der Zensur einst verdrängte revolutionäre Element der Oper Gehör verschaffen.

Weitere Vorstellungen: 30. Oktober, 3., 5., 8., 12. und 15. November; Information und Karten unter: www.oper-stuttgart.de