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Vatersuche, Völkermord und Amour fou

Kultur / Lesedauer: 4 min

Fatih Akins „The Cut“ und Benoit Jacquots „Drei Herzen“ bei Filmfestspielen in Venedig
Veröffentlicht:02.09.2014, 19:03

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Zwei europäische Beiträge beeindrucken das Publikum bei den Filmfestspielen in Venedig: Fatih Akins „The Cut“ und Benoit Jacquots „Drei Herzen“.

An einem Morgen in aller Frühe fängt es an: Da kommen die Häscher der türkischen Armee und holen Nazaret, den jungen armenischen Schmid aus dem türkischen Marsin ab. Die Handlung spielt im Jahr 1915, und für die im Ersten Weltkrieg kämpfende Türkei läuft es nicht gut. Gerade sind die Engländer bei Gallipolli gelandet. Am Abend zuvor hatte Nazaret fröhlich und weitgehend unbeschwert gefeiert, jetzt ist er als Christ und vor allem als Armenier zum Außenseiter und Sündenbock abgestempelt.

„The Cut“ heißt der neue Film von Fatih Akin, der im Wettbewerb von Venedig Premiere hatte: Ein episches, bilderstarkes und unbedingt für die große Leinwand inszeniertes Drama, das im ersten Teil die Innenansicht des Massenmordes an den Armeniern in der Türkei vor knapp 100 Jahren bietet, und im zweiten zu einer Reise über drei Kontinente wird, zum Trip eines Heimatlosen, eines Vaters auf der verzweifelten Suche nach seinen Töchtern.

Mutig, klug, anständig

Das vielschichtige Drama ist mutig, und politisch so klug wie anständig: Anständig, weil es die Verbrechen zeigt, nichts beschönigt, sich klar auf Seiten der Opfer stellt, weil es aber auch auf die feinen Unterschiede achtet, zumindest in Teilen. So wird sehr deutlich herausgearbeitet, dass die Morde nicht aufs Konto der Armee gehen, sondern auf das der politischen Führung, die Schwerverbrecher aus dem Gefängnis holte und sie als Mordschergen die grausige Drecksarbeit machen ließ. Auch weist der Film sehr subtil, aber klar auf die Verstrickung der Deutschen hin, mit denen die Osmanen im Ersten Weltkrieg verbündet waren.

Nicht immer ist „The Cut“ so differenziert: Die Türken in diesem Film sind fast immer böse. Augenrollende Schurken, mit dunklen Bärten. Dafür sind die Armenier grundgute Menschen, fürsorglich und human, noch im Tod solidarisch und liebevoll. Kein schlechter Charakterzug trübt das Bild, keinen Verräter gibt es im Film unter ihnen. Etwas arg ist solche Schwarzweißmalerei, etwas mehr Grautöne wären gut gewesen. Fatih Akin hat einen Mainstreamfilm gemacht, der sein ambitioniertes Thema mitunter weich spült.

Aber der konventionelle, aufs breite Publikum zielende Zugang hat auch Vorteile: Im Gewand der Unterhaltung schmuggelt der Film brisante Botschaften auf die Leinwand. Er bricht mit einem Tabu, rückt die Leiden des armenischen Volkes ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Ein Schwachpunkt ist leider sein Hauptdarsteller: Tahar Rahim hat leider nur einen immer gleichen und etwas sehr naiven Ausdruck. Wie ein armer Tor wandert er durch das Grauen der Welt, innerlich wie äußerlich scheinbar unberührt. Dass er die Hölle auf Erden erlebt hat, hinterlässt weder in seiner Seele noch seinem Gesicht Spuren. Außerdem ist der Film ist zu lang, zumal man das Ende erahnt.

Gewidmet ist der Film übrigens Hrant Dink, dem 2007 unter nach wie vor ungeklärten Umständen ermordeten Journalisten und Bürgerrechtler armenischer Herkunft. Fatih Akin zeigt: Die armenische Vergangenheit will nicht vergehen.

Schicksalsmaschine Kino

Auch ein zweiter europäischer Film rührt an existentielle Fragen: „Trois Coeurs“ („Drei Herzen“) des Franzosen Benoit Jacquot. Er versetzt uns in die südfranzösische Provinz, dort begegnen wir zwei Schwestern und ihrer Mutter, gespielt von den Superstars Charlotte Gainsbourg, Chiara Mastroianni und Catherine Deneuve.

Sofort entfaltet sich die Schicksalsmaschine namens Kino, das Kraftwerk der Gefühle und ein Spiel aus Liebe und Zufall: Gainsbourgs Figur lernt nachts einen Mann kennen, sie laufen durch die schlafende Stadt bis zum Morgen. Sie verabreden ein Treffen in Paris, haben aber keine Telefonnummern getauscht. Er verpasst durch dumme Zufälle den Termin, sie reist enttäuscht ab und ein paar Tage später nach Amerika. Kurz darauf begegnet er der zweiten Schwester, sie verlieben sich und heiraten. Da taucht natürlich die andere Schwester auf. Man muss das nicht für realistisch halten, kann es gekünstelt finden, aber es ist eben Kunst: Sie konfrontiert uns mit einer mitreißenden Konstellation, in der es nicht um statistische Wahrscheinlichkeit geht, sondern um emotionalen Realismus.

Und da funktioniert der Film hervorragend: Immer wieder wird herzschlaghafte Musik eingesetzt, sie überhöht das Ganze und macht doch Sinn. Denn die drei Herzen des Titels sind nicht nur die der Liebenden, es ist auch das kranke Herz des Mannes, das schnell zerbrechen kann an dem Dilemma, in dem er steckt.

So ist „Trois Coeurs“ der beste Film bisher, ein unglaublich gutes Werk über die universale Macht der Liebe und das Drama, wenn Amour fou gegen Pragmatismus steht. Es ist ein sehr französischer Film: es wird viel gegessen, viel geredet, es wird viel geliebt. Existentialistisch, hedonistisch und unbedingt preiswürdig.