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Lagerhalle

Sterben für den digitalen Kunstmarkt

Kultur / Lesedauer: 4 min

Solide gesungen, brillant gespielt: Andrea Moses inszeniert Puccinis „La Bohème“ an der Staatsoper Stuttgart
Veröffentlicht:01.06.2014, 19:25

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Düster und chaotisch sieht es aus in dieser Lagerhalle. Offenbar wird sie als Atelier genutzt. An den Wänden ragen hohe, mit Gerümpel vollgestopfte Metallregale nach oben. Rechts auf dem Boden sind zahlreiche Fernsehgeräte gestapelt. Links steht ein Sofa vom Sperrmüll. Auf zusammengestellten Tischen breitet sich kreative Unordnung aus. Dahinter lehnen leere Bilderrahmen an einer Staffelei. Ein Ölradiator und ein Kanonenofen können gegen winterliche Kälte nicht viel ausrichten.

Hier hausen sie also, die selbst ernannten Pariser Genies, denen Giacomo Puccini 1895 in seiner Oper „La Bohème“ ein musikalisches Denkmal gesetzt hat. Andrea Moses’ Neuinszenierung an der Stuttgarter Staatsoper versetzt das Stück aus dem Quartier Latin des frühen 19. Jahrhunderts in die Gegenwart. Der aus Offenburg im Schwarzwald stammende Graffiti-Künstler Stefan Strumbel wurde für das Bühnenbild engagiert. Da er auf diesem Gebiet ein Neuling ist, erhielt er Hilfe von Susanne Gschwender.

Bei Moses setzen die vier Bohemiens auf neue Medien und Arbeitsmethoden. Der Maler Marcello ( Bogdan Baciu ) benützt lieber Spraydosen als Pinsel und filmt Szenen der Wohngemeinschaft in Echtzeit als Vorlagen für digital bearbeitete Bilder. Das Instrument, das der Musiker Schaunard (André Morsch) im Gigbag auf dem Rücken trägt, ist wohl eine E-Gitarre. Mikrofone und ein Mischpult stehen als provisorisches Aufnahmestudio für spontane Mitschnitte bereit.

Der Dichter Rodolfo (Atalla Ayan) schreibt seine Artikel nicht wie der arme Mansardenpoet von Carl Spitzweg mit der Feder, sondern tippt sie in seinen Billig-Laptop, während Colline (Adam Palka) im speckigen Mantel theatralisch die Misere mit ironischen Philosophemen verklärt.

In diese verzweifelt lustige Runde platzt der Vermieter Benoit (Mark Munkittrick). Gerade hat man angefangen, das von Schaunard ergatterte Gemüse zu schnippeln. Selbstverständlich wird diese künstlerische Aktion per Video dokumentiert. Nach Benoits lautstark gefeiertem Rauswurf ziehen Rodolfos Kumpel los, um das von Schaunard eingespielte Geld auf dem Weihnachtsmarkt zu verbraten. Der Dichter bleibt zurück, weil er noch einen Zeitungstext schreiben muss.

Wie gerufen kommt da die nebenan wohnende Mimì (Pumeza Matshikiza) im afrikanischen Outfit (Kostüme: Anna Eiermann). Sie braucht gar nicht wie das Schicksal an die sperrangelweit offen stehende Tür zu klopfen. Bei der Suche nach dem Schlüssel bleibt der grelle Scheinwerfer für die Live-Cam an.

Sensationeller Atalla Ayan

Der Rummel auf dem Platz vor dem altmodischen Café Momus geht als Konsum-Show vor Kaufhausarkaden über die Bühne. Verkleidete Statisten treten als Nussknacker, Eisbären und Schneemänner auf. Tanzmariechen tragen rote Nikolaus-Kostüme. Als der Kellner die Rechnung bringt, löst sich nach einer gewaltigen Explosion eine Reklameplane von der Fassade. Polizisten stürmen den Platz. Ein Terroranschlag oder kreative Überlebenstaktik der Künstler? Im allgemeinen Chaos können die Zechpreller entkommen.

Den dritten Akt lässt Moses vor einem Bordell spielen. Auf einen Bauzaun hat jemand „heimat“ gesprüht. Strumbel kann sich Eigenwerbung nicht verkneifen. Aber clevere Vermarktung von Kunst ist ja das Thema dieser Inszenierung. Unter Simon Hewett werden die hymnischen Aufschwünge von Puccinis Partitur effektvoll entfaltet. Manchmal jedoch tönt es pauschal laut aus dem Graben.

Star des Solistenensembles ist der brasilianische Tenor Atalla Ayan, der die Partie des Rodolfo spektakulär meistert und verdientermaßen mehrfach Szenenbeifall erhält. Yuko Kakuta bringt als Musetta eine zickig-kokette Note ins Spiel.

Ansonsten wird solide gesungen und brillant gespielt. Am Ende finden sich die Protagonisten in einem neuen, aufgeräumten, hell ausgeleuchteten Atelier wieder, das auch als Verkaufsgalerie dient. Hinten flanieren betuchte Besucher durch die Ausstellung „Vie de la Bohème“. Mimìs Tod drückt auf die Stimmung, wird aber dennoch gefilmt. Nur die Musik protestiert empört dagegen, dass selbst diese zum schwarz-weißen Standbild erstarrende Szene noch als Kunst auf den Markt geworfen wird.

Weitere Vorstellungen von an der Stuttgarter Oper am 4., 15., 18., 20., 24. und 30. Juni sowie am 4., 7., 11., 18. und 22. Juli.