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Re­fle­xi­ve Ehr­lich­keit

Ravensburg / Lesedauer: 2 min

Re­fle­xi­ve Ehr­lich­keit
Veröffentlicht:23.01.2015, 08:00

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Nun wollen wir auch gar nicht an der guten Absicht der grünen Dame zweifeln. Uns interessiert vielmehr dieses sich ehrlich machen. Früher hat man sich nützlich gemacht, unentbehrlich, schlau, kundig oder frei - unter anderem beim Arzt. Heute macht man sich ehrlich, oder aber wird aufgefordert, es doch endlich zu tun.

Diese Redewendung - übrigens noch nicht im Duden - soll vom ehemaligen SPD-Chef Franz Müntefering stammen, und bei dessen Hang zur spröden Rede wäre es auch nicht verwunderlich. Stilbildend hätte er damit allemal gewirkt, wie Stichproben im Internet beweisen: Nicht nur die Kanzlerin solle sich gefälligst ehrlich machen, wird da gefordert, sondern auch die Opposition, die EU und die Nato, Putin und Obama, die Hochschulpolitik und die Bundeswehr, die Kirche und die Odenwaldschule, die Bundesbahn und Stuttgart 21 - und bei Pegida ist es wohl nur noch eine Frage von Tagen.

Nun weiß jeder sofort, was damit gemeint ist: dass man etwas offenlegt, was lange Zeit verschwiegen wurde. Oder noch deutlicher: dass man endlich mit dem Lügen aufhört und sich zur Wahrheit bekennt. Also hätte es eigentlich keines sprachschöpferischen Aktes bedurft. Der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre nahm dieses sich ehrlich machen sogar in sein Lexikon des Grauens auf - als ein Beispiel für die furchterregende Sondersprache von Politikern und politischen Medien. So weit muss man nicht gehen. Aber etwas gestelzt klingt es schon.

Die Formulierung ist auch nicht ganz unproblematisch. Denn kann man sich selbst ehrlich machen? Muss man sich nicht vielmehr die Ehrlichkeit von einem anderen bescheinigen lassen?

Es gibt einen Parallelfall im Deutschen: sich entschuldigen. Gesetzt den Fall, einer vergisst den Skatabend in der Wirtschaft, die anderen rufen irgendwann entnervt an, und der Saumselige stammelt dann ein "Ich entschuldige mich vielmals" ins Telefon, geht das dann in Ordnung? Früher war sich entschuldigen im gehobenen Deutschen verpönt, weil man sich damit auf bequeme Weise selbst von einer Schuld freisprach, die zu erlassen allenfalls anderen zustand. Als korrekt galt: "Entschuldigen Sie mich bitte!" Heute üben die Sprachgewaltigen eher Nachsicht. Die Nachschlagewerke erlauben entschuldigen nun auch als reflexives Verb. Sich entschuldigen = wegen eines fehlerhaften Verhaltens den davon Betroffenen um Nachsicht bitten.

Also hat der vertrottelte Skatbruder alle Chancen, dass ihm Generalpardon gewährt wird. Und wie man die Deutschen und ihre Lust an Sprachmoden kennt, kann sich künftig jeder ehrlich machen - auch das Land Baden-Württemberg.