Ein Klassiker ist sie schon, die Horrorkomödie „Arsen und Spitzenhäubchen“, allerdings eher auf dem Boulevard als auf noblen Staatstheaterbühnen. Doch ab und zu drängt es selbst das eher auf humorfreie Dramatik abonnierte Staatsschauspiel Stuttgart zum Leichten-Seichten. Jan Bosse wählte für seine vierte Inszenierung am Hause dieses irre Stück über irre Leute, weil er findet, dass das sehr gut zu unserer irren Zeit passt. Er erkennt in der Klamotte aus den 1940er-Jahren eine aktuelle Satire auf eine Welt mit einem seltsamen Präsidentendarsteller und Menschen mit vielen Leichen im Keller. Die Satire funktioniert nicht ganz, die Klamotte jedoch hervorragend. Riesenjubel im Schauspielhaus.
„Arsen und Spitzenhäubchen“ war für den Autor Joseph Kesselring ein Sechser im Lotto. 1939 geschrieben, hatte es am 10. Januar 1941 am Broadway Premiere und wurde ein Riesenerfolg (übrigens Kesselrings einziger). Dreieinhalb Jahre lang wurde es jeden Abend vor ausverkauftem Haus gespielt. Frank Capras Verfilmung mit dem jungen Cary Grant als Mortimer und Peter Lorre als Dr. Einstein konnte erst 1944 anlaufen, weil man den Theaterkollegen das Geschäft nicht vermiesen wollte.
Man darf davon ausgehen, dass ein Großteil des Publikums den Schwarzweißfilm über die aus falsch verstandener Nächstenliebe mordenden alten Ladies kennt. Doch Jan Bosse und dem Stuttgarter Ensemble gelingt es, aus dem bekannten Stoff neue Funken zu schlagen, allen voran Manolo Bertling in Cary Grants Rolle: ein komödiantisches Naturtalent. Bosse hat Erfahrung mit Filmstoffen. Am Staatsschauspiel hat der gebürtige Stuttgarter zuletzt sehr eindrucksvoll die Filme „Szenen einer Ehe“ und „Herbstsonate“ von Ingmar Bergman auf die Bühne gebracht.
Millowitsch-Dramaturgie
Statt Psychotheater nun also Klamotte. In der Familie Brewster sind alle irre: Die Tanten Abby (Rahel Ohm) und Martha (Marietta Meguid) bringen ältere Herren um die Ecke, um ihnen das Alleinsein zu ersparen; Neffe Teddy (Sebastian Röhrle) hält sich für den amerikanischen Präsidenten Roosevelt, der den Panama-kanal baut; Neffe Jonathan (Christian Schneeweiß) ist ein Massenmörder, der sich sein Gesicht von Dr. Einstein (Astrid Meyerfeldt) immer wieder umoperieren lässt. Als der einzig „Normale“ gilt Neffe Mortimer (Manolo Bertling). Eigentlich. Aber dieser Mortimer ist Theaterkritiker – aus Sicht von Theaterleuten also auch eher durchgeknallt, unterbelichtet und arrogant. Die Regie kann es sich nicht verkneifen, diesem Mortimer die Worte eines Stuttgarter Kollegen in den Mund zu legen, der dem Staatstheater eine „fatale Mischung aus Ambition und Infantilität“ attestiert. Überhaupt sind das eigentlich die witzigsten Passagen, wenn es um das Theater selbst geht. Die von Bosse gewünschte Satire über real existierende Präsidenten blitzte hingegen nur selten auf.
Das Staatstheaterensemble zeigt aber, dass es mühelos die Millowitsch-Dramaturgie – Tür auf, Tür zu, Klappe auf, Klappe zu – beherrscht und famos Possen reißen kann. Ob Lea Ruckpaul als überdrehte Zicke Elaine über Gräber tanzt oder Sebastian Röhrle im Teddy-Kostüm (es geht um Theodore und nicht um Franklin D. Roosevelt!) versucht, auf der Trompete die amerikanische Hymne zu intonieren und Michael Stiller in gleich drei Nebenrollen brilliert – das hat Klasse und gereichte jeder Boulevardbühne zur Ehre.
Für das Bühnenbild hat sich Moritz Müller nicht nur Original-Art-Deco-Sessel besorgt, sondern sich auch für die Kulissen von dieser Zeit inspirieren lassen. Kostümbildnerin Kathrin Plath zitiert die Mode der 1940er-Jahre – Volants für die Damen, weite Bundfaltenhosen für die Herren – aber eben alles überdreht, schrill. Wie die ganze Inszenierung.
In diesen zwei pausenlosen Stunden passiert permanent irgendetwas – Leichen werden entdeckt und entsorgt, Telefone klingeln, Mörder müssen besänftigt und potenzielle Mordopfer geschützt werden. Und dennoch gibt es auch Durchhänger. Und dann kommen Gedanken wie: Warum, bitteschön, muss ein Staatstheater „Arsen und Spitzenhäubchen“ aufführen? Kann man das nicht dem Boulevardtheater überlassen? Wollte der Intendant mal wieder die Hütte vollkriegen? Warum schauen wir uns gerade diesen Schmarren an? Weil er unterhaltsam ist und gut gemacht, staatstheaterlich eben.
Nächste Vorstellungen am 15., 18., 24.,29. Juni, 1. und 9. Juli. Kartenvorverkauf Staatstheater Stuttgart: (0711) 20 20 90. www.schauspiel-stuttgart.de