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Lebensreform

Es konnte nie nackt genug sein

Kultur / Lesedauer: 4 min

Das Werk der „Brücke“-Künstler ist ohne die Vorläufer der Lebensreform so nicht denkbar
Veröffentlicht:23.08.2016, 17:43

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„Brücke und die Lebensreform“ – Eine bemerkenswerte Ausstellung im Buchheim Museum am Starnberger See .

Das nennt man einen Hingucker. Mitten im Sonderausstellungsraum des Buchheim Museums, zwischen manierlich gereihten Gemälden und Fotografien steht plötzlich ein Bett. Wie aus einer fernen Kultur, mit opulenten Schnitzereien versehen kurbelt es sofort die Fantasie an. Wer mag auf dem kuriosen Gestell Ruhe gefunden haben? Oder gerade nicht?

Ludwig Kirchner hat das Möbel 1919 in Davos für seine Lebensgefährtin Erna Schilling gebaut, nachdem sie wieder einmal abgereist war. Das Paar lag im Dauerclinch, die beiden konnten aber auch nicht voneinander lassen. Sie, die ehemalige Nachtclubtänzerin, dann Modell, Gefährtin, Kunstagentin, die Kirchner nicht klug genug und „etwas grob“ erschien. Und er, der schnöselige Architekt aus gutem Hause, der sich traumatisiert vom Ersten Weltkrieg in die Schweiz zurückgezogen hatte, um in Ruhe malen zu können und seine Morphinsucht los zu werden.

Luxusleihgabe kommt aus Davos

Fünf Wochen lang werkelt Kirchner an diesem Bett, versieht Pfosten und Wangen mit ineinander verschlungenen Männer- und Frauenleibern. Wahrscheinlich arbeitet er sich auch an seiner Beziehung ab, die ihm viel mehr bedeutet, als er sich eingestehen mag. Zumindest muss sie so leidenschaftlich gewesen sein, dass das schöne neue Lager gleich in der ersten Nacht zusammenbrach.

Wirklich stabil ist das besondere Exponat also nicht, und es war einiges Verhandlungsgeschick erforderlich, um es aus den Schweizer Bergen an den Starnberger See zu holen. Ganz zu schweigen von den Transport- und Versicherungskosten. Doch die Luxusleihgabe aus dem Kirchner-Museum ist nicht nur als geschichtenträchtiges Schaustück von Interesse, es taucht auch auf einem der zentralen Bilder der aktuellen „Brücke“-Ausstellung auf.

Kirchner, der neben Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff – alle Architekturstudenten an der TU Dresden beim fortschrittlichen Mit-Inititator des Werkbunds Fritz Schumacher – zu den Gründern der Künstlergemeinschaft gehörte, zeigt das auffällige Bett im „Interieur mit Maler“. Wer sich bislang gefragt hat, was die kuriosen Figuren neben der beim Sticken wiedergegebenen Erna darstellen sollten, ist jetzt um eine Antwort schlauer.

Wobei nicht nur Kirchner bemüht war, seine Wohnräume vom Mobiliar bis zu den Teppichen künstlerisch zu gestalten. Die neue „Arm- und Lebensfreiheit“, die sich die „Brücke“-Leute gegenüber den etablierten „älteren Kräften“ herausnahmen, zog sich durch die gesamte Existenz. Und steht zudem im engen Zusammenhang mit der um 1900 vornehmlich von bürgerlichen Kreisen favorisierten Lebensreform. Das demonstriert die aus Wichtrach nahe Bern übernommene und durch Lothar Günther Buchheims Expressionisten-Sammlung erheblich erweiterte Ausstellung in überraschender Deutlichkeit.

Leben und Kunst sollte eins sein

Was bei der „Brücke“ oft genug als fortschrittlich gilt, hatte Vorbedingungen: von der Hinwendung zur Natur in einer mehr und mehr industrialisierten Zivilisation bis zur körperlichen Freizügigkeit. Für diese frühen Hippies, die sich mit ihren zum Teil viel zu jungen Modellen an den Seen um Moritzburg, an der Nord- oder Ostsee niederließen, war das Nacktbaden so selbstverständlich wie das Zeichnen.

Leben und Kunst sollten eins sein, wobei es in dieser Hinsicht ein kurioses Vorbild gibt: Nach seinem Malereistudium an der Münchner Kunstakademie hatten Karl Wilhelm Diefenbach und sein Schüler Hugo Höppner, genannt Findus, um 1885 einen entsprechenden Körperkult an der Isar bei Höllriegelskreuth zelebriert. Und später dann auf dem berühmten Monte Verità bei Ascona. Wenngleich hier ein schwer erträglicher Hang zur Esoterik, wallende Gewänder, Vegetarismus und um 1925 Findus’ Lichtgebet hinzukamen. Eine vergleichbare nackte Figur, die sich mit ausgebreiteten Armen der Sonne entgegen streckt, findet sich zufällig im Signet der „Brücke“.

Und auch der lebensreformerische Ausdruckstanz einer Mary Wigman oder Gret Palucca gehört in der Davoser Zeit zu Kirchners Interessen – 1926 lernt er die beiden bei einem Abstecher in Dresden kennen. Wobei die Verarbeitung im „Totentanz der Mary Wigman“ (1926/28) sicher zu den bezugreichsten Gemälden der Schau zählt. Dazu sind Max Pechsteins „Tanz“ von 1912 oder Otto Muellers „Fünf gelbe Akte am Wasser“ von 1921 schon wieder nahe an der Eurythmie.

Den Herrschaften konnte es sowieso nie nackt genug sein. Das hatte vor 100 Jahren etwas Unverfälschtes, vor allem Befreiendes. Dass sich Heckel und Kirchner dann ausgerechnet mit kindlichen Modellen wie „Fränzi“ Fehrmann beschäftigt haben, ist mindestens heikel und ein düsterer, kaum bis ins Letzte klärbarer Punkt in den „Brücke“-Annalen. Wobei es auch hier ein süßlich-kitschiges wie vielsagendes Vorläuferbild Diefenbachs gibt: „Die Unschuld“ von 1898 zeigt ein elfenhaftes Mädchen, das eine Schlange auf dem Handrücken betrachtet. Lange wirds nicht mehr gedauert haben, bis die Kleine ins wahre Leben gepurzelt ist.

Die Ausstellung „Brücke und die Lebensreform“ im Buchheim Museum in Bernried dauert bis

9. Oktober. Öffnungszeiten: Di.-So. und Fei. 10-18 Uhr.