StartseiteKulturDie geklaute Stunde

Zeitumstellung

Die geklaute Stunde

Kultur / Lesedauer: 7 min

In der Nacht auf Sonntag werden die Uhren umgestellt. Die Sommerzeit bewegt die Gemüter – seit Jahren und auf Jahre hinaus.
Veröffentlicht:24.03.2017, 19:45

Artikel teilen:

Es geht nur um eine Stunde. Aber es ist eine besondere Stunde, 60 Minuten, über die leidenschaftlich gestritten wird. Der Mensch mit einer 40-Stunden-Woche hat für vieles eine Stunde übrig: für den Sport, fürs Fläzen auf dem Sofa und vor dem Fernseher, für das Daddeln auf dem iPad . Er liegt Stunden im Bett, sitzt im Restaurant oder wartet im Stau dem Urlaub entgegen. Aber es gibt Stunden, bei denen kennen viele Bürger kein Pardon. Wie bei jener einen Stunde, um die in der Sommerzeit die Nacht kürzer wird.

Morgen, in der Nacht auf Sonntag, werden in weiten Teilen Europas die Uhren um eine Stunde vorgestellt. Wir verlassen die Normalzeit, die gerne Winterzeit genannt wird. Man betrügt uns gewissermaßen um eine Stunde Schlaf oder Party, die wir dann am letzten Sonntag im Oktober zuverlässig und mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks zurückbekommen.

Gestört im biologischen Rhythmus

Was soll also der leidenschaftliche Streit um die Sommerzeit? Angeblich wird die von 74 Prozent der Bundesbürger abgelehnt, weil sie sich in ihrem biologischen Rhythmus gestört fühlen oder weil sie im Universallexikon Wikipedia gelesen haben, dass wegen der Zeitumstellung mit einer Zunahme von Herzinfarkten zu rechnen sei.

Es scheint um Grundsätzliches zu gehen, wenn man die Frage beantwortet haben möchte, warum in Europa und anderen Teilen der Welt wie Brasilien oder den USA an einer Regelung festgehalten wird, deren Sinn sich nicht wirklich erschließt.

In Deutschland hält sich hartnäckig die Legende, dass man im damaligen Westdeutschland die Sommerzeit eingeführt habe, weil die DDR vorgeprescht sei und das Ganze irgendetwas mit Energieeinsparung nach der dramatischen Ölkrise der 1970er-Jahre zu tun haben müsse.

Ahnung vor der Globalisierung

Und es stimmt, alle uns bekannten historischen Zeitumstellungen der letzten nahezu 200 Jahre haben immer etwas mit dem Versuch zu tun gehabt, zu sparen. Meist ging es darum, den Verbrauch von Brennstoffen zu reduzieren, seien es Wachs, später dann Gas, Öl oder auch der Strom aus der Steckdose, bei dem man dann nicht mehr genau weiß, ob er aus Windkraft, Hydroenergie oder Atomkraft stammt.

Dass irgendwie alles mit allem zusammenzuhängen scheint, haben die Menschen auch schon in den Zeiten vor der Globalisierung bemerkt, bevor sie anfingen, viel mehr zu reisen und dabei Grenzen zu überschreiten und bevor es zur Alltäglichkeit wurde, Dinge einzukaufen, die mehrheitlich aus Asien oder aus Billignähereien in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion stammen. Auch vor 100Jahren hat man gewusst, dass wenn man eine neue Regelung einführt, schauen muss, dass es keinen Streit mit dem Nachbarn gibt.

Als am 6. April 1916 im Reichsgesetzblatt bekannt gegeben wurde: „Der 1. Mai 1916 beginnt am 30. April 1916 nachmittags 11 Uhr nach der gegenwärtigen Zeitrechnung“, mögen viele in Deutschland dies als Versuch verstanden haben, in kriegerischen Zeiten Energie einzusparen. Der Erste Weltkrieg tobte seit zwei Jahren, eine Materialschlacht mit neuartigen Waffensystemen und erhöhter Mobilität. Dass die Kriegsnation Deutschland durch den Stellvertreter des Reichskanzlers im Reichsgesetzblatt die Umstellung der Uhren anordnete, veranlasste die Kriegsgegner Frankreich und Großbritannien, es dem Feind gleichzutun.

Ganz gleich, ob man Krieg gegeneinander führte oder schwerwiegende ideologische Differenzen zwischen der DDR und der Bundesrepublik auszufechten waren, scheint die Sorge groß gewesen zu sein, als unmodern, als nicht fortschrittlich und rückwärtsgewandt zu gelten. Nur in der Schweiz hat es länger gedauert. Dort hat der spätere Chef der Schweizer Volkspartei, Christoph Blocher, noch Anfang der 1980er-Jahre versucht, die Einführung der Sommerzeit zu verhindern. Aber 1981 nahmen auch die Eidgenossen jene Zeit an, die in Frankreich oder Deutschland galt.

Aber, macht denn diese Regelung wirklich Sinn? Oder sind wir nicht längst so weit, dass man sie wieder abschaffen sollte, weil sie keine spürbaren Erleichterungen bringt, sondern die Menschen durcheinander geraten, die Schulkinder morgens nicht aus dem Bett kommen und man wichtige Verabredungen zu verpassen droht, weil man vergaß die Armbanduhr umzustellen? Unsere Handys und Tablets, die Uhren in unseren Laptops erledigen das für uns, sie sind uns einen wichtigen Schritt voraus und zeigen, dass ihnen all das nichts ausmacht. Der Mensch ist empfindlicher als die Maschine, zum Glück.

Jede Zeitumstellung im März und im Oktober auferlegt Tausenden von Menschen einige Tage, in denen sie unruhig schlafen. Andererseits hat sich noch kein bundesdeutscher Fernreisender lautstark über die Zeitumstellung beklagt, wenn er in den Urlaub an die Westküste der USA oder nach Thailand fährt.

Nun gibt es zahlreiche Initiativen mit klangvollen Namen wie Sommerzeit-abschaffen.de mit dem Werbespruch „Der Sonne ist unsere Zeit egal“ oder auch die „Initiative Sonnenzeit“, die mit all diesem Ballast aufräumen will und mit dem Satz „Sommerzeit – als Wohltat maskiertes Übel“ wirbt. Der Jagdverband schreckt uns mit der Feststellung „Wildtiere kennen keine Sommerzeit“ auf.

Es gibt auch auf Parteienebene Bemühungen, bei der Europäischen Kommission für eine Abschaffung der Sommerzeit zu werben. So engagiert sich Herbert Reul von der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament seit Längerem mit Unterschriftenaktionen und anderen Maßnahmen dafür, dass Brüssel die Verordnung zur Zeitumstellung zurücknehmen möge. Doch dort scheint man nicht gewillt, eine Entscheidung herbeizuführen, die mancher nationalen Regierung bitter aufstoßen würde. Vielleicht ist es auch die Scheu der EU-Kommission, mit einer Neuordnung den Eindruck der Regulierungswut zu erzeugen.

All die Aufregung für nichts

Technische Probleme mit der Zeitumstellung gibt es kaum. Flugzeuge fliegen, Züge fahren oder sie bleiben eben eine Stunde länger stehen, die Atomuhren aus der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig werden zuverlässig umgestellt. Verglichen mit den Sorgen, dass die Jahrhundertwende am 31. Dezember 1999 ein Chaos in Buchhaltungen, Reservationssystemen und auf dem heimischen Laptop auslösen würden, ist die eine Stunde vor im März und eine Stunde zurück im Oktober eine kleine Übung.

Allerdings – das hat eine Studie des Büros für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestags ergeben, nützt die Zeitumstellung nicht wirklich etwas. Beziehungsweise, man weiss es nicht so genau, weil es weder für überwiegende Vorteile noch für Nachteile eindeutige Beweise gibt. Vor einem Jahr haben die Technikfolgenabschätzer eine mehr als 200-seitige Dokumentation vorgelegt. Und darin steht, dass die verschiedenen Studien sehr länderspezifisch seien, aber alles in allem nur eine Reduzierung von 0,03 Prozent des Energieverbrauchs eines Landes festzustellen sei. Gleichzeitig schadet die Zeitumstellung aber auch nicht. Zumindest aus wirtschaftlicher und energiepolitischer Sicht.

Die Bundestagsforscher resümieren, es gebe keine „belastbaren Hinweise“ darauf, dass die Sommerzeit ernsthafte positive oder negative Effekte nach sich zöge. „Insofern bleibt die Frage, ob die derzeit gültige Sommerzeitregelung beibehalten, geändert oder abgeschafft werden soll, auf absehbare Zeit Gegenstand politischer und öffentlicher Debatten, die nur in geringem Maße auf wissenschaftliche Fakten abstellen können.“

All das sind Argumente, die nichts anderes belegen als die Sinnlosigkeit – nicht der Zeitumstellung, sondern der langatmigen Diskussion darüber.

Aber es sei die Frage erlaubt, ob es wirklich ein derart massives Problem für uns, unsere Gesellschaft, unser Miteinander, unseren Wirtschaftskreislauf oder unsere Sicht auf die Welt darstellt, wenn zweimal im Jahr an der Uhr gedreht wird?

Viele Länder in Afrika und in Asien stellen die Zeit nicht um. Das dürfte weniger damit zu tun haben, dass in der Nähe des Äquators die Tageslichtzeiten und die Nachtzeiten sehr starr bei jeweils etwas zwölf Stunden liegen. Es hat mehr damit zu tun, dass unsere Diskussion um die Sommerzeit ein Luxusproblem ist.

In jedem Fall gelte es, so die Experten des Bundestages, bei einer Abschaffung der Zeitumstellung unbedingt die Richtlinie 2000/84/EG zu ändern.

Freuen wir uns also auf die Zeitumstellung kommende Nacht. Alles andere ist vergeudete Zeit.