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„Es ist gut, manches Mal in den Süden zu kommen“

Kultur / Lesedauer: 6 min

Simon Rattle über die Berliner Philharmoniker und warum er gerne in Deutschland wohnt
Veröffentlicht:24.03.2017, 19:36

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Noch ein Jahr ist Sir Simon Rattle Chefdirigent der Berliner Philharmoniker , die Osterfestspiele Baden-Baden stehen vor der Tür. Georg Rudiger hat ihn im Festspielhaus zum Gespräch getroffen – über den Wechsel von Salzburg nach Baden-Baden, seine späte Entdeckung Puccinis, die neue Aufgabe in London und warum Deutschland für ihn ein moralischer Kompass ist.

Als die Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Jahr 2013 in Baden-Baden starteten, hingen in der Stadt Banner mit der Aufschrift: „Willkommen zu Hause, Berliner Philharmoniker!“ Fühlen Sie und das Orchester sich inzwischen zu Hause in Baden-Baden?

Absolut. Es ist gut, manches Mal in den Süden zu kommen. Da erkennt man auch, welch anderes Deutschland hier zu erleben ist. Die Menschen sind freundlich, sie haben Zeit. Jeder fühlt sich hier gleich entspannt. Auch im Festspielhaus werden wir immer sehr herzlich empfangen. Wir erfüllen Baden-Baden zwei Wochen mit Musik: Das ist ein echtes Vergnügen.

Die Entscheidung, die von Herbert von Karajan im Jahr 1967 gegründeten, traditionsreichen Osterfestspiele von Salzburg nach Baden-Baden zu verlegen, war innerhalb des Orchesters nicht unumstritten.

Es ist ein großes Privileg, hier in Baden-Baden zu sein. Wir sind Gäste des Festspielhauses. Das ist etwas ganz anderes als in Salzburg, wo wir von Ferne aus dafür sorgen mussten, dass die Dinge ins Laufen kommen. Dass wir dort die Opernproduktionen nur zweimal spielen konnten, war eines der größten Probleme. Für ein Orchester wie die Berliner Philharmoniker, das nur einmal im Jahr eine Oper spielt, ist es natürlich besonders schwierig, dies nur zu Beginn und am Ende eines 14-tägigen Festivals zu tun. Das war schon ziemlich verrückt. Vor der Premiere waren wir alle nervös – und bei der zweiten Aufführung zwei Wochen später hatten wir fast alles wieder vergessen (lacht). Hier in Baden-Baden haben wir vier Aufführungen, was natürlich auch wirtschaftlich viel sinnvoller ist. Salzburg war sehr exklusiv. Hier haben wir mehr Offenheit. Und können mehr und unterschiedlichere Konzerte spielen – darunter viele Kammerkonzerte.

Vor zwei Jahren haben Sie in Baden-Baden mit „Manon Lescaut“ Ihre erste Puccini-Oper dirigiert. Dieses Jahr ist es mit „Tosca“ die zweite. Warum haben Sie Giacomo Puccini so spät für sich entdeckt?

Zum einen war ich zu schüchtern. Ich habe Puccinis Musik immer geliebt, aber hatte das Gefühl, sie nicht dirigieren zu dürfen. Als ich es dann tat mit „Manon Lescaut“, dachte ich: Was war ich doch für ein Dummkopf, dass ich die letzten 35 Jahre Puccini gemieden hatte! Aber vielleicht hat es auch etwas Gutes, dass ich mich erst so spät mit dem Komponisten beschäftige. Ich bringe also eine gewisse Unschuld mit, die ich nicht hätte, wenn ich schon viele Jahre mit Puccini als Dirigent vertraut gewesen wäre. Wir haben großartige, neugierige Solisten gefunden, die sich auf die Probenarbeit freuen, was im heutigen Betrieb nicht selbstverständlich ist. Als ich unserem wunderbaren Tenor Marcelo Álvarez sagte, dass wir vier Bühnenorchesterproben haben, konnte er es kaum glauben. Das hat er mit diesem Werk noch nie erlebt. Die meisten aus unserem Orchester spielen „Tosca“ zum ersten Mal – und das ist wahrlich kein leichtes Stück.

Im Sommer 2018 werden Sie als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker aufhören. Was hat das Orchester von Ihnen gelernt?

Da müssen Sie das Orchester fragen.

Inwiefern hat sich das Orchester verändert?

Ich denke, das Orchester hat jetzt einen weiteren Horizont, eine größere Bandbreite als vorher. Die Musikerinnen und Musiker haben vieles entdeckt. Und das meiste davon mit großem Vergnügen.

Was haben Sie vom Orchester gelernt?

Wie viel Zeit haben Sie? (lacht) Da gibt es so vieles. Ich habe eine Menge erfahren dürfen über Tiefe in der Musik und das Atmen im Orchester. Das war und ist wirklich ein Privileg.

Als Sie auf einer Pressekonferenz verkündeten, dass Sie 2018 als Chefdirigent, dann im Alter von 63Jahren, in Berlin aufhören, erwähnten Sie als Liverpooler den Beatles-Song „When I’m 64“ – insbesondere die Zeilen: „Will you still need me, will you still feed me?“ Ab kommender Saison wird Sie das London Symphony Orchestra „füttern“, wo Sie als Chefdirigent beginnen. Was sind Ihre Pläne mit diesem Orchester?

Das Orchester ist nicht so privilegiert wie die Berliner Philharmoniker. Die Musiker dort haben ein härteres Leben. Das London Symphony Orchestra ist immer neugierig und wartet darauf, was als nächstes kommt. Die Berliner Philharmoniker denken viel über ihre große Tradition nach. Über die Vergangenheit spricht man beim London Symphony gar nicht. Das Orchester hat ein großes Potenzial. Ich freue mich sehr darauf. Es gibt bei mir schon das Gefühl des Nach-Hause-Kommens. Ich kenne viele Orchestermitglieder schon sehr lange – mit manchen habe ich bereits zusammen im Jugendorchester in England gespielt.

Sie werden allerdings nicht nach London ziehen, sondern mit Ihrer Familie in Berlin wohnen bleiben. Was denken Sie als Engländer über das Deutschland der letzten Jahre?

Es ist der Ort, wo unsere Kinder geboren sind, sie aufwachsen und zur Schule gehen. Ich finde es faszinierend, hier als Immigrant zu leben. Deutschland hat sich sehr verändert in den letzten 15 Jahren. Das war für die deutsche Psyche eine außerordentliche Zeit. Wer hätte gedacht, dass Deutschland so eine große Party machen kann wie nach dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft?

Im Augenblick scheint Deutschland einer der wenigen Orte zu sein, die als moralischer Kompass der Welt dienen. Ich bin glücklich und stolz, hier zu leben. Und ich freue mich sehr, dass meine Kinder an einem Ort aufwachsen, wo die Menschen versuchen, die richtigen Dinge zu tun. Aber ich unterstütze immer noch den FC Liverpool.

Mit Jürgen Klopp als Trainer.

Exakt. Einer der wenigen Fußballtrainer, der scheinbar von allen verehrt wird. Er hat dort viel in Bewegung gebracht. Und ist der ungewöhnlichste Liverpooler, den man sich vorstellen kann.

Die Osterfestspiele Baden-Baden werden am 7. April mit Puccinis „Tosca“ eröffnet. Bis 17. April gibt es zahlreiche Konzerte. Kartentelefon (07221) 30 13 -101

www.festspielhaus.de