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Warum Casting-Shows Tränen brauchen

Panorama / Lesedauer: 5 min

Medienwissenschaftler Christian Hißnauer im Interview über „Germany’s Next Topmodel“
Veröffentlicht:08.05.2014, 19:13

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Ivana, Jolina oder Stefanie – wer wird „Germany’s Next Topmodel“? Diese Frage wird heute im Finale der Show mit Heidi Klum beantwortet. Damit endet die neunte Topmodelsuche auf ProSieben kurz nach der mittlerweile elften Staffel „Deutschland sucht den Superstar“ („DSDS“) auf RTL am vergangenen Samstag. Castingshows wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „DSDS“ sind in den vergangenen Jahren sehr präsent im Fernsehen gewesen, unterscheiden sich aber deutlich von einer klassischen Dokumentation – sagt Christian Hißnauer von der Universität Göttingen. Er schrieb seine Doktorarbeit zum Fernsehdokumentarismus, also dokumentarischen Formen im Fernsehen, und erklärt im Interview mit Alexander Karl, warum Liebesgeschichten und Tränen für Castingshows so wichtig sind und wieso Jugendliche das Fach Medienkunde brauchen.

Herr

Nein, „Germany’s Next Topmodel“ zählt als Castingshow zum Reality TV , also einem Unterhaltungsangebot, das mal stärker oder schwächer auf der Realität basiert. Im Vordergrund steht aber ganz klar die Unterhaltung, das heißt, hier kann fingiert und gefakt werden. Nehmen wir die Modelsuche: Da ist die Situation als solche nicht echt. Der Wettbewerb wird ja nur inszeniert, um im Fernsehen gezeigt zu werden. Bei einer klassischen Dokumentation würde ein realer Modelwettbewerb auch tatsächlich stattfinden, unabhängig davon, ob ein Kamerateam vorbeikommt und das dokumentiert.

Sind Reality TV und Dokumentation denn immer so leicht zu trennen?

Das ist oft schwer, etwa bei Doku-Soaps wie „Auf und davon – Mein Auslandstagebuch“ oder auch die ältere Serie „Frankfurt Airport“. Bei solchen Formaten werden normale Menschen in authentischen Situationen gefilmt, die beispielsweise am Flughafen stehen, ihren Reisepass vergessen haben und plötzlich nicht fliegen können. Die Elemente der Seifenoper kommen in der späteren Aufbereitung dazu, da mit Spannungselementen und mehreren Handlungsbögen innerhalb einer Episode gearbeitet wird.

Sprechen wir noch einmal über Castingformate, die in den vergangenen Jahren oft im Fernsehen vertreten waren – wie wichtig sind die Emotionen für den Erfolg der Show?

Schon die Ausgangssituation sorgt dafür, dass der Zuschauer bei Castingshows mitfiebert, denn die Frage ist immer: Wird er oder sie gewinnen? Davon abgesehen werden die Emotionen bei den Zuschauern stärker geweckt, je näher er sich den Kandidaten fühlt.

Wie wird diese Nähe in Castingshows hergestellt?

Man hat das Gefühl, dass fast jeder Castingshow-Kandidat irgendein Trauma hat. Das soll dem Zuschauer suggerieren, dass auch solche Menschen Schicksalsschläge erleiden müssen und nicht perfekt sind. Damit kann sich der Zuschauer identifizieren. Denn ein Kandidat, der eine emotionale Liebesgeschichte hat und dem Tränen über das Gesicht kullern, schafft mehr Nähe, als wenn er nur auf dem Catwalk oder der Bühne zu sehen wäre. Formate wie „Germany’s Next Topmodel“ brauchen Emotionen, um zu funktionieren.

Und diese Strategien, um Emotionen beim Zuschauer zu wecken, gibt es in klassischen Dokumentationen nicht?

In erster Linie geht es in Dokumentationen, anders als im Reality TV, um die Vermittlung von Informationen. Auch bei klassischen Dokumentationen wird inszeniert und emotionalisiert, aber nicht so stark und künstlich. Das heißt: Auch hier muss es Figuren geben, die für die Zuschauer interessant sind. Niemand möchte eine langweilige Doku sehen.

Neben Dokumentationen und Castingshows gibt es noch viele weitere Reality-TV-Formate. Gibt es derzeit mehr dokumentarische Formate als früher?

Heute gibt es zunächst einmal viel mehr Fernsehen als früher. In den 1970er Jahren existierten nur zwei oder drei Programme, jeweils mit Sendeschluss. Heute haben wir 24 Stunden Programm – und das auf deutlich mehr Sendern. Alleine deshalb schon gibt es mehr Dokumentarisches im Fernsehen. Derzeit boomt aber vor allem Reality TV, weil es meist günstig zu produzieren ist. Das bietet sich gerade im Nachmittagsprogramm an, wo in den vergangenen Jahren zunächst die Talkshows, dann Gerichtsshows und heute Scripted Reality Formate laufen, bei denen nicht immer klar ist, wo die Dokumentation aufhört und wo die Fiktion anfängt.

Braucht es da aber nicht mehr gesellschaftliche Aufklärung, gerade auch bei Jugendlichen etwa durch ein das Schulfach Medien?

Unbedingt! Die Einführung eines Fachs wie Medienkunde erachte ich als zwingend notwendig, um über Fernsehen, aber auch Internet und andere Medien aufzuklären und deren Mechanismen zu erläutern. Denn viele Kinder und Jugendliche sehen es tatsächlich als Karrieremöglichkeit, zum Fernsehen zu gehen und Superstar zu werden. Als erster Schritt wäre es aber schon sinnvoll, Formate, die dokumentarisch aussehen, es aber nicht sind wie „Berlin – Tag & Nacht“, als solche zu kennzeichnen.

Junge Menschen sind ja oftmals auch sehr internetaffin und nutzen beispielsweise Mediatheken, um online zeitunabhängig Programminhalte zu schauen. Wie wichtig sind solche Online-Angebote auch für Dokumentationen und Reality-TV-Formate?

Sicherlich sind Mediatheken gut für den Zuschauer und werden immer wichtiger, um auf Inhalte jederzeit zugreifen zu können – das ist auch eine große Chance für Dokumentationen. Bei Castingshows wie „DSDS“ ist das anders: Um etwa über Favoriten oder Outfits mitreden zu können, muss der Zuschauer das Programm bei der Erstausstrahlung sehen. Das gilt gerade in der virtuellen Gemeinschaft, also auf dem sogenannten Second Screen.