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Abnehmen ganz ohne Diät

Panorama / Lesedauer: 9 min

Abnehmen ganz ohne Diät
Veröffentlicht:17.03.2017, 17:03

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Schmauen – zusammengesetzt aus den Begriffen Schmecken und Kauen – bringt angeblich eine ganze Litanei von Segnungen. Die extrem bewusste und genussvolle Art des Kauens lässt unter anderem die Pfunde purzeln und das Diabetesrisiko sinken, verspricht zumindest der Münchner Schauspieler Jürgen Schilling, der entsprechende Seminare anbietet. Wir waren dabei und erklären, wie’s funktioniert.

Am Sonntag, dem 13. Januar 2002, fällt US-Präsident George W. Bush für kurze Zeit in Ohnmacht, nachdem er beim hastigen Verzehr einer Brezel fast erstickt wäre. Als der Münchner Schauspieler Jürgen Schilling davon liest, greift er sofort zu Papier und Bleistift und schreibt der Mutter des Opfers schlechten Kauens und Schlingens, Barbara Bush, einen Brief. Darin legt er eindringlich dar, wie dem Jungen geholfen werden könne, damit dieser sich künftig nie mehr und an nichts verschlucke. Nebenbei erklärt Schilling in dem Schreiben der Mutter des damals mächtigsten Mannes der Welt, wie die USA von der Geißel des Übergewichts, von Diabetes und anderen Leiden geheilt werden könne. Eine Antwort hat Schilling nie bekommen, was ihn aber nicht weiter stört. Denn er ist bis heute überzeugt, dass die Stunde des Durchbruchs seiner Entdeckung – des Schmauens – kommen wird.

Dackel als Versuchskaninchen

Angefangen hat alles zu Beginn der 1990er-Jahre: Fürchterlich, ständig diese Oberbauchschmerzen! Ob’s an den vielen Büffets liegt, auf die der Schauspieler andauernd trifft? An der Schokolade oder den Fertiggerichten, die er sich nach Proben oder Vorstellungen zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten in den Magen stopft? Ganz genau weiß Schilling heute nicht mehr, was schließlich der Auslöser war, über sich selbst und das eigene Ess- und Kauverhalten nachzudenken. Woran er sich aber ganz genau erinnert, ist der sehr stark übergewichtige Dackel seiner Mutter. Das Tier ist immer um den Essenstisch herumscharwenzelt, hat gebellt und gewinselt, wenn andere zu speisen versuchten. „Da hab’ ich dem Hund einen harten Brotkanten zugeworfen. Und es war Ruhe.“

Das alles ist jetzt fast 30 Jahre her, aber es ist wichtig, um den Mann und seine Mission im Hier und Heute zu verstehen. Er steht in einer Münchner Arztpraxis vor acht Seminarteilnehmern, die aus ganz Deutschland angereist sind, eine Frau sogar per Flieger aus Bremen. Sie haben diese weiten Wege auf sich genommen, um das Schmauen zu erlernen. Schmauen? Jürgen Schilling hat dieses neue Wort aus den Begriffen Schmecken und Kauen erschaffen. Und damit seine Philosophie auf eine denkbar kurze Formel gebracht. „Den Dackel“, so sagt er jetzt mit einem triumphierenden Grinsen, „habe ich mit Schmauen abgespeckt“. Durch das Füttern mit trockenem Brot sei der Hund endlich beim Fressen gefordert gewesen. Vorbei die Zeiten der industriellen Futterpampe, die nur so durch den Rachen flutschte. Und wenn ein Dackel das Prinzip versteht, dann die Anwesenden des Seminars doch sicher auch.

Notbremse Schmauen

Reinhard Stummreiter ist „ergebnisoffen“ zu Schilling gekommen, wie er sagt. Er gehört zur knappen Hälfte der Teilnehmer, die überhaupt nennenswertes Übergewicht haben. Dabei hat sich der vormalige 300-Kilo-Oberpfälzer seit einer Magen-OP bereits halbiert. „Man muss aufpassen, bei mir stagniert das Gewicht gerade, es geht sogar eher wieder nach oben.“ Die Notbremse, das könnte Jürgen Schilling werden, der nun die Gruppe um den Tisch zur ersten Übung versammelt: das Schmauen von Wasser. „Das ist ein gutes Training! Nehmen Sie einen Schluck, schließen Sie die Augen, lehnen Sie sich zurück, halten Sie die Flüssigkeit im Mund, schmecken Sie, spüren Sie – und schlucken Sie in drei bis fünf kleinen Etappen.“

Die Menschen im Raum sitzen mit geschlossenen Augen da und spüren mit allen Sinnen dem Wasser in ihrem Mund nach. Die Schluckgeräusche erinnern ein wenig an sanft quakende Frösche. „Fühlen Sie es?“, fragt Jürgen Schilling, dem Gestik, Mimik und Betonung des Schauspielers bis heute unleugbar in den Knochen steckt. Auch wenn er sich längst von Bühne und dem Fernsehen zurückgezogen hat.

„Das Schmauen ist mir einfach zu wichtig, um meinem alten Beruf noch nachzugehen“, sagt Schilling während einer Seminarpause. Der 68-Jährige brennt offensichtlich mit Haut und Haaren für sein Ernährungskonzept, das eigentlich gar keines ist. Denn: „Wir haben diesen wunderbaren Kau- und Schmeck-Apparat. Wir nutzen ihn aber nicht. Wir schlucken nur noch.“ Und die Lebensmittelindustrie kalkuliere damit. Wie zum Beweis schenkt Schilling Cola aus. Zunächst fordert er die Teilnehmer auf, es ganz normal schnell runterzuschlucken. Auf diese Art genossen, schmeckt es den meisten. „Und jetzt schmauen Sie intensiv!“ Verblüffendes Ergebnis: Verbleibt die Flüssigkeit länger im Mund, bekommen die Geschmacksrezeptoren mehr Zeit, so schmeckt die Cola rasch unangenehm – und sehr sauer. „Und das trinken Millionen Kinder literweise“, sagt Schilling resignierend, während Reinhard Stummreiter mit Ekel das Gesicht verzieht. „Würden sie schmauen, es schmeckte ihnen nicht mehr.“

Training mit hartem Brot

Tatsächlich hält Schilling, der sein Buch „Kau Dich gesund!“ inzwischen rund 100 000 Mal verkauft hat, der durch sämtliche Talkshows getingelt ist, der auf Ärztekongressen und Fachtagungen für Diabetes und Fettsucht spricht, noch eine ganze Reihe mehr Offenbarungen für seine Seminaristen bereit. Training mit hartem Brot: „Legen Sie sich ein Stückchen auf die Zunge, behandeln Sie es wie ein Bonbon!“ Das Brotstück kreist im Mund. Die Backen wölben sich. „Spüren Sie, wie die Säfte fließen? Saugen Sie! Lutschen Sie!“ Tatsächlich verwandelt sich das Brot mit der Zeit in seidigen Brei – und plötzlich schmeckt es süß. „Die Stärke verwandelt sich in Zucker“, sagt Schilling entzückt und springt von seinem Stuhl auf.

Dieser Moment ist wichtig. Denn er zeigt exemplarisch, dass der erste Magen hinter den Schneidezähnen sitzt und nicht erst irgendwo im Bauch. „Die Speichel-Amylase ist der wichtigste Verdauungsschritt. Wenn wir alles nur grob schlucken, dann ist es zu spät!“ Bei diesem Vorgang werden Kohlehydrate bereits im Mund aufgespalten. „Der Fehler im System ist, dass wir diesen Schritt heute fast komplett auslassen“, sagt Schilling und zitiert aus einem riesigen Papierstapel wissenschaftliche Studien, die belegen, dass der Kau- und Schmauvorgang, wie Schilling ihn propagiert, gleich eine ganze Litanei von Segnungen bringt: Der Blutzucker steigt kaum an, die Insulinmenge bleibt gering, das Diabetesrisiko sinkt drastisch.

Spaziergang durch die Aromen

Es gibt offenbar eine Menge Menschen, die Schilling in Briefen danken und schreiben, dass sie aufgrund des Schmauens keine Tabletten oder gar Injektionen gegen den Typ-2-Diabetes mehr bräuchten. Der Geschmackssinn wird sensibilisiert – durch die längere Zeit im Mund entfalten sich Nuancen, die beim hastigen Essen nicht einmal anklingen können. Während das Schlingen dem Flug über eine Landschaft entspricht, ist das Schmauen wie ein Spaziergang zu Fuß. Durch die Aromen und Texturen unserer Nahrung.

„Natürlich tritt bei diesem mitunter fast meditativen Essmuster die Sättigung ein, noch bevor der Ranzen spannt“, doziert Schilling jetzt. Die Überernährung – und damit das Übergewicht – werde dadurch als Nebenwirkung automatisch abgebaut. Und wie oft soll man kauen? „Das ist nicht der entscheidende Punkt“, sagt der Schauspieler und erzählt, dass er zunächst auch mit Kaubewegungen experimentiert habe, dass er sich in der Wohnung entsprechende Zahlen an die Wand gehängt hat. „Entscheidend ist jedoch, dass die Nahrung im Mund schluckreif wird und nach und nach geschluckt wird.“ Nach einer sturen Zahl zu kauen und erst danach zu schlucken, das sei Unsinn. Das Schmauen funktioniere im Erleben einer neuen Art von Genuss. „Verzicht, Diät – das ist alles Humbug und unnötig!“ Nicht was, sondern wie gegessen wird, sei entscheidend. „Der Rest reguliert sich von selbst.“

Bewusster Genuss

Schmauen – also uneingeschränkt zu empfehlen? „Grundsätzlich ist der Ansatz nicht von der Hand zu weisen“, erklärt die Leiterin des Ernährungszentrums Bodensee-Oberschwaben, Daniela Schweikhart, auf Anfrage. Obwohl sie glaube, dass für eine vernünftige Verdauung neben dem Schmauen noch mehr Faktoren eine Rolle spielten, kämen durch das intensive Kauen und Schmecken förderliche Prozesse in Gang. „Es ist bekannt, dass vom Mund neben der Amylase Reize auf Nerven und Hormone ausgehen, die den Verdauungsapparat vorbereiten.“ Mindestens so wichtig ist aus Sicht der Ernährungswissenschaftlerin, dass der langsame Genuss mehr Bewusstsein fürs Essen und eine erhöhte Befriedigung schaffe.

Zurück in München: „Mein Bewusstsein ist jetzt jedenfalls geschärft“, fasst Margit aus dem Schwarzwald gegen Ende des Tages ihre Eindrücke zusammen. Die acht Teilnehmer haben – jeder für sich – das Essen neu erlernt. Anders, intensiver, achtsamer. „Aber Sie müssen trainieren“, mahnt Schilling zum Abschied. Reinhard Stummreiter will diesen Rat beherzigen und die 50 Kilo Übergewicht, die er noch loswerden will, in Angriff nehmen.

Jürgen Schilling wirkt nach dem Seminar erschöpft. „Sie sehen ja, ich gebe immer alles.“ Doch obwohl die wissenschaftliche Studienlage zum Schmauen für Schillings Konzept spricht, stößt er doch immer wieder an Grenzen. „In unserem Gesundheitssystem besteht kein uneingeschränktes Interesse, dass die Menschen durchs Schmauen Heilung finden. So wie ich damals meine Magenprobleme in kürzester Zeit losgeworden bin und nebenbei noch rund 30 Kilo abgenommen habe.“ Aber mit der intensiven Nutzung des natürlichen Kau- und Schmeckapparats, der jedem Menschen gratis zur Verfügung steht, ließen sich – etwa von der Pharmaindustrie – eben keine Milliardengewinne erwirtschaften. „Ich mach’ trotzdem weiter“, sagt Schilling, der gerade an einem Schmau-Buch für die USA schreibt. Damit niemand mehr an einer Brezel fast zu ersticken braucht.

Weitere Informationen: Natürlich sind Seminar und Buch für den Einstieg ins Schmauen am besten geeignet. Die Kurzanleitung geht ungefähr so: Bissen in den Mund nehmen, Besteck weglegen, zurücklehnen, und bewusst kauen und schmecken – also schmauen. Den Bissen im Mund bewegen, sodass er vom Speichel ganz durchdrungen wird, in kleinen Etappen schlucken. Was gegessen wird, ist laut Schilling nicht wichtig. Auch die Menge ist nicht vorgegeben, limitiert sich durch das Schmauen aber automatisch, da auch mit weniger Nahrung Sättigung eintritt. Das Tagesseminar kostet 333 Euro, für eine Begleitperson die Hälfte. Trainingsmaterial – Essen und Trinken – sind inbegriffen. In Netz unter www.schmauen.de sammelt Jürgen Schilling Erfahrungsberichte, fasst Kommentare von Ärzten und Wissenschaftlern zusammen, verweist auf Studien zur gesundheitlichen Wirksamkeit seines Ernährungskonzepts.