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Impfpflicht

„ Impfpflicht ist politisch nicht durchsetzbar“

Panorama / Lesedauer: 7 min

Professor Thomas Mertens von der Universität Ulm zu Infektionskrankheiten durch Viren
Veröffentlicht:24.03.2017, 21:02

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Der Ulmer Professor Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO) in Deutschland, geht davon aus, dass hierzulande einige Tausend Menschen pro Jahr an einer Grippeinfektion sterben – sehr viel mehr als die offiziell registrierten. Dass Impfen in Deutschland zur Pflicht wird, erwartet der Arzt und Virologe nicht. Eine Impfpflicht würde „alle Impfgegner zu Märtyrern machen“, sagte er im Gespräch mit Claudia Kling.

Herr Professor Mertens, wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Viren beschreiben?

Viren sind ein sehr interessantes Arbeitsgebiet, weil sie relativ einfache Strukturen haben und man an ihnen wesentliche grundlegende Mechanismen untersuchen kann, die an komplexen Lebewesen schwerer zu untersuchen wären. Viren sind aber natürlich auch Krankheitserreger – vom Schnupfen bis zur Ebola-Epidemie – und daher von größter medizinischer Bedeutung.

Haben Viren auch Vorteile für den Menschen? Oder anders gefragt: Gibt es auch etwas Gutes, was man über sie sagen könnte?

Es gibt ernst zu nehmende Wissenschaftler, die davon ausgehen, dass die Entwicklung des Menschen und der Arten, durchaus von Viren beeinflusst wurde. Manche Viren haben die Möglichkeit, genetisches Material von einer Stelle zu einer anderen zu transportieren, bei den Retroviren ist dies beispielsweise der Fall. Insofern ist es absolut möglich, dass Viren in der Evolution eine positive Rolle gespielt haben.

Viren sind aufgrund der Globalisierung ja sehr reiselustig geworden. Führt das zu neuen Gefahren für uns?

Natürlich hat die Globalisierung die Folge, dass sich die Ausbreitung und Häufigkeit von Viren verändern. Nehmen Sie das SARS-Virus, das in China von Schleichkatzen auf den Menschen übertragen wurde und innerhalb weniger Wochen zu einer weltweiten Epidemie geführt hat. Das wäre in der Zeit, als man mit Pferd und Wagen oder lange mit Schiffen unterwegs war, nicht möglich gewesen.

Hier im Südwesten von Baden-Württemberg beschäftigt uns auch die Vogelgrippe. Wie riskant ist dieses Virus für uns?

Durch das aktuelle Vogelgrippevirus hat sich vor allem die Situation für die Geflügelzuchtbetriebe verändert. Sie wurden durch die Stallpflicht gezwungen, ihre Tiere so zu halten, dass sie nicht mit dem Kot vorbeifliegender Zugvögel in Berührung kommen konnten. Denn wenn ein Influenza-Virus in einen Zuchtbetrieb eindringt, müssen mitunter Tausende Tiere getötet werden, das gab es ja bereits mehrfach.

Und wie hoch ist das Risiko, dass das Vogelgrippevirus, wie in Asien bereits geschehen, auf den Menschen überspringt?

Diese Fälle in Asien resultierten mit Sicherheit aus dem sehr engen Zusammenleben von Vögeln und Menschen. Dann kann es zu Infektionen kommen. Aber es gibt auch die Möglichkeit, dass sich Viren verändern – und zwar so, dass sie sowohl vom Tier auf den Menschen als auch von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Eine solche Mutation kann zu einem großen Problem werden, da es gegen diese veränderten Viren keine Basisimmunität in der Bevölkerung gibt. 1918 beim Ausbruch der Spanischen Grippe, die mindestens 25 Millionen Menschen das Leben gekostet hat, war das der Fall.

Wieso sind manche Viren ansteckender als andere?

Dies hängt von vielen Faktoren ab. Wenn infizierte Menschen sofort Symptome zeigen, ist es einfacher, die Infektionskette zu unterbrechen. Sie schicken den Infizierten in ein Einzelzimmer – und schützen so die Gesunden. Schwieriger ist die Lage, wenn der Infizierte bereits Viren ausscheidet, aber keine Symptome zeigt – beispielsweise bei HIV, Influenza, und vielen Hepatitis-Infektionen ist das so. In diesen Fällen hat das Virus bessere Möglichkeiten, sich auszubreiten.

Auch die Sterblichkeitsrate ist bei Viruserkrankungen sehr unterschiedlich. Den Infizierten zu töten kann doch aber nicht im Interesse des Virus sein?

Ist es auch nicht. Die meisten Viren, beispielsweise die Herpesviren, bringen uns nicht um, sondern leben in Koexistenz mit uns. Das Virus will sich eigentlich nur vermehren und übertragen werden. Und je länger ein Virus in seiner Wirtspopulation zu Hause ist, umso weniger macht es krank. Es könnte sein, dass HIV die Menschen in ein paar Hunderttausend Jahren auch nicht mehr krank macht – so wie es seiner ursprünglichen Affenpopulation nicht mehr schadet. Das Phänomen, dass ein Virus tötet, ist sozusagen die Folge mangelnder Anpassung.

Allein durch das Grippevirus sind in diesem Jahr Hunderte Menschen gestorben …

Wahrscheinlich sind noch viel mehr Menschen an der Grippe gestorben, die wurden aber nicht registriert, weil sie vielleicht ohnehin schon alt und gebrechlich waren. Man geht von einigen Tausend Influenza-Toten pro Jahr aus – selbst bei Epidemien mit vergleichsweise harmlosen Influenza-Viren.

Sind die Impfvorschriften in Deutschland zu lasch?

Impfen ist zwar die sinnvollste medizinische Methode überhaupt, die wir ergreifen können, aber eine Impfpflicht ist in Deutschland politisch nicht durchsetzbar. Sie würde alle Impfgegner zu Märtyrern machen. Selbst eine indirekte Impfpflicht, wie es sie in den USA gibt, wäre bei uns nicht zu vermitteln. Dort kann Kindern und Jugendlichen beispielsweise die Aufnahme in einen Kindergarten oder in eine Schule verwehrt werden, wenn sie nicht geimpft sind. Die Politiker in Deutschland werden sich nicht an eine Impfpflicht wagen – trotz der gelegentlichen abweichenden Äußerungen eines Ministers.

Aber müsste man Kinder nicht besser vor ihren Eltern schützen, wenn sie unverbesserliche Impfverweigerer sind?

Sie müssen bedenken: Es gibt bei jeder medizinischen Maßnahme auch Nebenwirkungen. Die sind zwar bei Impfungen extrem selten, dennoch wäre es schwierig, Impfungen gegen den Willen der Eltern durchzusetzen. Dazu kommt: Krankheiten wie Polio und Diphtherie treten bei uns nicht mehr auf. Auch das beeinflusst das Bewusstsein und damit die Akzeptanz von Impfungen. Wenn Kinder plötzlich wieder an Diphtherie sterben würden, wäre die Impfbereitschaft sehr viel höher. Aber so nehmen Eltern einseitig das Risiko von Nebenwirkungen wahr.

Woran liegt es, dass im süddeutschen Raum die Impfquote gerade bei Masern im bundesweiten Vergleich eher niedrig ist?

Das ist ein komplexes Problem. Es hängt auch damit zusammen, dass alle Gesundheitsmaßnahmen im Grunde genommen Ländersache sind. Bayern beispielsweise hat das Impfen auf die Hausärzteschaft verlegt und den öffentlichen Gesundheitsdienst stark aus diesem Bereich herausgenommen. Und es ist vielleicht auch eine Mentalitätssache, wie stark sich der Staat in die Gesundheitsvorsorge des jeweiligen Bundeslandes einmischt.

Das Problem bei Masern sind ja nicht nur die tödlich verlaufenden Krankheitsfälle und dass Babys in den ersten Lebensmonaten nicht geimpft werden können. Das Problem sind ja auch Spätfolgen wie die chronische Gehirnentzündung (SSPE). Wird das unterschätzt?

An der SSPE, die vor allem dann auftritt, wenn Kinder sehr früh mit Masern infiziert wurden, sterben mit Sicherheit mehr Menschen in Deutschland als durch terroristische Anschläge. Aber die Risikoeinschätzung der Menschen ist meist völlig irrational.

Inzwischen weiß man, dass Viren auch Krebs verursachen können. Hat dies die Forschung bislang unterschätzt?

Das bekannteste Beispiel für die Entstehung von Krebs durch Viren ist der Gebärmutterhalskrebs nach der Infektion mit Papillomviren. Die Weltgesundheitsorganisation geht inzwischen davon aus, dass 20 bis 25Prozent der menschlichen Tumore in einem Zusammenhang mit Virusinfektionen stehen. Und ich bin davon überzeugt, dass wir weitere Erkrankungen finden werden, bei denen Infektionen mit Viren eine Rolle spielen.

Werden diese Erkenntnisse dazu beitragen, Krebserkrankungen künftig verhindern zu können?

Bei den Papillomviren, die der deutsche Nobelpreisträger Harald zur Hausen als Krebsursache erkannt hat, könnte das ja bereits funktionieren. Es gibt einen Impfstoff, der diese Erkrankung verhindert. Das Problem ist nur, dass er in Deutschland viel zu wenig akzeptiert ist. Die Durchimpfungsrate liegt bei 40 Prozent.