StartseiteRegionalRegion SigmaringenHerbertingenManchmal war sie „todunglücklich"

Erster Weltkrieg

Manchmal war sie „todunglücklich"

Herbertingen - / Lesedauer: 4 min

Manchmal war sie „todunglücklich"
Veröffentlicht:08.10.2010, 17:10

Artikel teilen:

Aussiedler und Spätaussiedler hängen zwischen zwei Welten. Die Sowjetunion , Rumänien oder Polen wurden nie von ihnen als richtige Heimat angesehen, aber auch in Deutschland wirklich angekommen sind heute noch nicht alle. Julia Rahm, die 1994 endlich aus Kasachstan in den Landkreis Sigmaringen kommen konnte und jetzt in Herbertingen lebt, erzählt von ihrer Familie und den Parallelwelten der Aussiedler.

Von unserer Redakteurin Jennifer Kuhlmann

„Meine Großeltern haben in einer deutschen Kolonie bei Odessa in der ehemaligen UdSSR gelebt und haben sich im Ersten Weltkrieg irgendwie durchgeschlagen“, erzählt Julia Rahm. Die Leidensgeschichte der Familie begann mit dem Zweiten Weltkrieg. Der Großvater wurde in die deutsche Armee eingezogen, die in Russland lebenden Deutschen als Verräter und Verbrecher geächtet und in Arbeitslager nach Sibirien verschleppt. „Meine Oma nahm ihre zwei Kinder und war von da an ständig auf der Flucht.“ Erst ging es nach Polen, dann nach Berlin. Dort hat 1944 Julia Rahms Mutter (Klara Dorn), die damals sechs Jahre alt war, ihren Vater zum letzten Mal gesehen, bevor dieser später in Ungarn erschossen wurde. Da war die Mutter bereits mit Zwillingen schwanger, eins der Kinder überlebte nicht.

Nach dem Kriegsende wurde die Großmutter mit ihren Kindern von der russischen Armee in einem Viehwaggon nach Kasachstan deportiert. Dort versteckten sich in einem Dorf viele Deutsche in Baracken. Sie hatten keine Pässe und Angst vor dem KGB. „In Semipalatinsk haben sie sich ein neues Leben aufgebaut“, sagt Julia Rahm. „Jahrelang mussten sie sich jede Woche bei der Spezialkommandantur melden, durften die Stadt nicht verlassen.“ Dort hat Julia Rahms Mutter einen Deutschen geheiratet und vier Kinder bekommen.

Obwohl zu Hause deutsch gesprochen wurde, mussten die Kinder in eine russische Schule gehen, deutsche Einrichtungen waren verboten. „Ich habe dann als Kind schnell die Entscheidung getroffen, mich anzupassen“, sagt Rahm. „Ich habe ab der zweiten Klasse nur noch Russisch geredet, um keine Probleme zu haben wie meine Schwestern.“

Nach der Wende und der Zerschlagung der Sowjetunion durften Julia Rahm und ihre Geschwister nach Deutschland gehen. Doch die Bearbeitung der eingereichten Papiere, mit denen sie ihre deutsche Abstammung belegten, dauerte Jahre. „Ich habe permanent gewartet“, so Rahm. „Gehe ich zur Universität oder nicht, suche ich danach Arbeit oder nicht.“ Andere hätten die Entscheidung der Familienplanung immer wieder vertagt.

1994 in Mengen angekommen

1994 wurde Julia Rahm endlich die Ausreise nach Deutschland gestattet. Ziel war Mengen, dorthin waren auch schon ihre Großmutter, Schwester und andere Verwandte gezogen. Mit Ende 20 musste sie noch einmal ganz von vorne anfangen. In der Sowjetunion hatte sie Pädagogik und Psychologie studiert, nun wurden ihre Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt. „Ich wollte aber arbeiten, was ich gut kann, ich bin ein sozialer Mensch.“ Hinzu kam, dass die Spätaussiedler im Kreis nicht überall mit offenen Armen empfangen wurden. „Fremdenfeindlichkeit war immer spürbar und es gab Phasen, da war ich todunglücklich.“ Rahm biss sich durch, lernte, dass sie ein „Nein“ vom Arbeitsamt nicht akzeptieren, sondern immer weiter nachfragen musste. Sie absolvierte erst eine Ausbildung als Erzieherin und studierte dann ein zweites Mal in Tübingen.

Jetzt arbeitet sie im Bereich Soziale Gruppenarbeit bei Mariaberg, ist mit einem Deutschen aus München verheiratet und hat zwei liebe Töchter. Sie weiß aber auch, dass nicht alle so hartnäckig wie sie gewesen sind.

„Wer einen Job und Familie hier hat, fühlt sich allein aufgrund dieser Tatsache oft integriert“, weiß Rahm. „Die Leute in beiden Gruppen sollen aus sich herausgehen, aufeinander zugehen und sich die Hand reichen“, sagt sie. Die Aussiedler kommen und bleiben in Deutschland, sie richten die Zukunft ihrer Kinder hier ein. Deswegen lohnt es sich, Integrationsprojekte zu machen, die direkt „vor Ort“ die Leute unterstützen können. Das versucht sie selbst bei ihrer Arbeit im Projekt „Inside - Outside“, das genau diese Erwachsenen und ihre Kinder zusammenbringen will. Am Anfang musste sie einige Misserfolge einstecken, mittlerweile kommen zu den Treffen immer mehr Menschen. Bei Rahms zu Hause in Herbertingen wird übrigens nur Deutsch gesprochen. „Meine Töchter Lisa und Jana sprechen kein Russisch“, sagt sie und gibt zu, dass sie das schon ein wenig bedauert.