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Waldorfschule

Schläge bestimmen die Grundschulzeit

Überlingen / Lesedauer: 4 min

Schläge bestimmen die Grundschulzeit
Veröffentlicht:19.03.2010, 19:40

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Er hat die vergangenen zwanzig Jahre geschwiegen, jetzt möchte er dieses Schweigen brechen. Der ehemalige Schüler der Freien Waldorfschule Überlingen , der Anfang der Neunziger Jahre gewalttätige Übergriffe und Missbrauch an der Schule erleben musste, berichtet im Gespräch mit der Schwäbischen Zeitung über seine Schulzeit.

Der erste Schultag ist eigentlich ein schöner und aufregender Tag für die kleinen ABC-Schützen. Gerade Erstklässler sollten beim Start in das Berufsleben liebevoll von ihrem Lehrer in die Klassengemeinschaft eingeführt werden. Auch in Waldorfschulen hat der Lehrer einer ersten Klasse eine besondere Funktion, unterrichtet die Schulanfänger in über der Hälfte der Fächer. Ein guter Start in die Schulzeit blieb dem betroffenen Schüler von Anfang an versagt. „Der Lehrer war sehr autoritär und übermäßig streng“, erinnert er sich. Schnell sei der Pädagoge laut geworden, habe die Kinder angebrüllt und beschimpft.

Doch die Härte des Lehrers äußerte sich nicht nur in verbalen Attacken gegen die Kinder, sondern auch in körperlicher Gewalt. So erinnert sich der ehemalige Schüler an eine rigide Bestrafungsaktion. Einige Schüler hätten „Blödsinn gemacht“, was den Lehrer sofort wieder extrem wütend gemacht habe. Die betroffenen Kinder hätten daraufhin ihre Finger ausstrecken müssen, auf die der Pädagoge hart geschlagen habe. „Ein Schüler meinte im Nachhinein, der Lehrer hätte sogar eine Nadel in seiner Hand gehabt beim Schlagen, aber das habe ich selbst nicht gesehen“, erzählt der Betroffene über die schmerzhafte Tortur.

Auf den Tisch geworfen

Nicht jeden Tag, aber doch mit einer gewissen Häufigkeit sei es zu körperlichen Attacken des Lehrers gekommen. Der ehemalige Schüler erinnert sich an einen Vorfall, als ihn der Pädagoge an den Hosenträger hochgezogen und hart auf einen Tisch geworfen habe. Die gesamte Klasse habe sich vor dem Lehrer gefürchtet.

Dabei war der Schule sehr wohl bekannt, dass es schon vor dessen Tätigkeit in Überlingen zu Beschuldigungen gegen den Pädagogen gekommen war. „Da nach seiner Einstellung der Verdacht von Eltern geäußert worden war, dass es bereits früher zu Missbrauch gekommen war, stellte der Bund der Freien Waldorfschulen im Auftrag der Schulleitung Nachforschungen an. Diese ergaben, dass ein früheres Gerichtsverfahren gegen den Lehrer in der Schweiz zu einem Freispruch geführt hatte und kein weiterer Verdacht bestand“, schreibt die Schulleitung in einer gestern in der Schwäbischen Zeitung veröffentlichten Stellungnahme. Der ehemalige Schüler berichtet, dass die Schulleitung mehrfach auf die Vorgeschichte des Mannes hingewiesen worden sei. „Darauf gab es keine Reaktion der Schule“, sagt er. Eine Mutter hätte ihr Kind vorsorglich in die Parallelklasse gebracht.

Über die Vorfälle in der Waldorfschule hätte kaum ein Schüler zu Hause gesprochen. Nach seinen „Ausrastern“ habe sich der Lehrer immer wieder entschuldigt.

Wie die Schule in ihrer Pressemitteilung einräumt, habe es auch einen Fall von sexuellem Missbrauch an zwei Schülern gegeben. Es habe sich um ein Geschwisterpaar, einen Jungen und ein Mädchen, gehandelt, ergänzt der ehemalige Waldorfschüler. „Sie mussten mittags immer auf den Bus warten, der Lehrer hat auf sie aufgepasst“, berichtet er. Eines Tages habe das Mädchen einer Gruppe erzählt, der Pädagoge habe sie „komisch berührt“. So sei der Missbrauch ans Licht gekommen. Der Pädagoge sei später anonym angezeigt und verurteilt worden. Der Mann hatte selbst eine Familie und mehrere Kinder.

Keine Aufarbeitung

Eine Aufarbeitung des Ganzen durch die Schule habe es nicht gegeben. Mit dem Ausscheiden des Lehrers hörten jedoch die Schwierigkeiten in der Klasse nicht auf. Ein neuer Lehrer sei zu den Viertklässlern gekommen, der jedoch mit der Situation überfordert gewesen sei. Ende der 6. Klasse habe die Schulleitung dann kurzfristig bestimmt, dass sechs bis sieben Schüler die Schule verlassen mussten, darunter der betroffene Schüler. Für ihn nahm die Schulkarriere einen guten weiteren Verlauf: Spä-ter schulterte er noch das Abitur.

An die Vorfälle seiner Grundschulzeit denkt er häufig zurück, aber sie belasten ihn heute nach eigenen Angaben nicht mehr so stark. Dass er sich jetzt gemeldet habe, lag an der aufflammenden öffentlichen Diskussion um Missbrauch und Gewalt an Schutzbefohlenen.